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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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abgeplatzten Lack. Zu Hause in N. hatte sie keinen benutzt. Dieses Wiedersehen war einfach zu schön, um wahr zu sein.
    Draußen war es dunkel. Mit einem Mal hatte ich wieder schreckliche Lust auf sie.
    Sie reichte mir eine Tasse mit dem fast noch kochenden Getränk. »Du erinnerst dich also an die M.s?«
    Wie konnte mir Annie diese Frage stellen?

Am nächsten Morgen rief ich bei der Post an. Auf dem Stempel stand, dass die drei Briefe im 15. Arrondissement eingesteckt worden waren. Vielleicht ließ sich aus einem mir unverständlichen Code auch der Briefkasten von den Umschlägen ablesen. Ich würde einen Zettel auf den Briefkasten kleben und diesen Louis bitten, sich bei mir zu melden.
    Aber die Antwort war eindeutig: Es gab keine Möglichkeit, das herauszubekommen. Und ich konnte unmöglich alle Briefkästen des 15. Arrondissements bekleben, ich hatte noch etwas anderes zu tun, ganz zu schweigen von den Schwachköpfen, die sich wegen sonstwas melden würden, nur nicht deswegen.
    Doch diese Briefe waren bestimmt wichtig für jemanden. Es musste irgendwo in Paris eine andere Camille Werner geben, die darauf wartete. Ich musste sie finden.
    Überzeugt, endlich die Lösung gefunden zu haben, machte ich mich auf die Jagd nach meinen Namensvettern.

    Verdammt noch mal! Ich hätte nie geahnt, dass es so viele Werners in Paris gab. Ich muss wirklich mal aufhören, ständig zu fluchen. Mein Bruder Pierre hat recht, das ist nicht sehr weiblich. So wirst du Nicolas bestimmt nicht zurückholen. Sei still, Pierre! Sprich nicht von ihm! Ich kümmere mich auch nicht um die Mädchen, mit denen du schläfst …
Ich rief alle Werners aus dem Telefonbuch an, um sie zu fragen, ob es erstens eine Camille in ihrer Familie gebe und ob sie zweitens vielleicht eine gewisse Annie kannten.
    Ich bekam ein paar höfliche, aber klare Neins zu hören. Andere Antworten gestalteten sich hingegen überraschend. Es gab die, die sofort auflegten, entsetzt von einer Stimme, die sie nicht kannten. Eine Frau kannte keine Annie, aber eine Anna, ob ich sicher sei, dass ich nicht Anna meinte? Die Dritte hatte keine Zeit, mir zu antworten, weil ihr schon der Mann im Nacken saß und brüllte, sie solle auflegen, das seien alles Einbrecher, sie machten das immer in der Ferienzeit, um zu sehen, ob jemand zu Hause sei.
    Aber weit und breit keine Camille Werner!

    Pech für diesen Louis, dann würde er eben weiter vergeblich schreiben ...

    Am folgenden Dienstag kam der nächste Umschlag, ebenso dick, nun aber allein in meinem Briefkasten, denn der Strom der Kondolenzschreiben war versiegt. Das gleiche Briefpapier, sehr glattes Velin, dieselbe Schrift – immer dieses große »R«, das sich unauffällig zwischen die kleinen Buchstaben mitten im Wort schlich. Und immer dieser rauchige Geruch, dieser Duft, der mich an etwas oder an jemanden erinnerte.
    Aber mir fiel nicht ein woran oder an wen.

    Die M.s waren ein junges, sehr wohlhabendes Paar. Ihre Eltern hatten die Aufgabe als sorgende Vorfahren hervorragend erfüllt, indem sie besonders früh und besonders reich starben. In den Testamenten wimmelte es von Immobilien, doch die M.s beschlossen zu unserem Unglück, sich in L’Escalier niederzulassen.
    L’Escalier war ein schönes Herrenhaus, das mitten in unserem kleinen Dorf stand, wie ein Schwan zwischen lauter Staren. Für die Kinder war es eine verwunschene Burg, für junge Leute ein romantisches Schloss, und wenn man das Alter erreicht hatte, wo man sich nur noch mit dem Unglück beschäftigt, gehörte L’Escalier mehr dem kollektiven Unbewussten als irgendeinem Eigentümer.
    Als das Ehepaar M. dort einzog, war es wie ein Gewaltakt. Alle fühlten sich durch das Eindringen dieser Fremden beraubt. Alle außer Annie, die sich über die Gelegenheit freute, neue Bilder zu schaffen. Sie hatte von dem Haus schon alle Ansichten gemalt, die ihr trotz einer hohen Steinmauer möglich waren. Die Mauer fiel zwar hier und da schon zusammen, hielt aber gleich einem uralten Wachhund immer noch unerwünschte Besucher fern.

    An einem Septembermorgen des Jahres 1938 waren zwei Dienstboten – ein Mann und eine Frau – mit Bergen von Gepäck und Möbeln eingetroffen, ein richtiger Umzug, bei dem auch das Überflüssige nicht fehlte. Aus den Kisten
ragten Teppiche, Gemälde, Lüster und Gegenstände aller Art.
    »Sie putzen das Haus vom Keller bis zum Dach und haben alles in den Hof gestellt. Sieh dir das an, was für ein hübsches Bild!«
    Ich war Annie zu der Ulme
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