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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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Ort zum Leben.

    Als Maman von der Zeremonie nach Hause gekommen war, hatte sie mir Vaters Medaille gezeigt. Sie hatte mir gesagt, dass der Mann, der sie ihr übergab, einen schiefen Mund hatte, und zu lachen versucht, als sie versuchte, ihn nachzuahmen. Seit Vaters Tod konnte sie nichts anderes mehr: versuchen. Sie gab mir die Medaille, presste meine Hände zwischen ihre und sagte, dass sie mir zustehe. Dann fing sie an zu weinen, das konnte sie noch sehr gut. Ihre Tränen fielen auf meine Hände, und ich entzog sie ihr heftig. Den Schmerz meiner Mutter an meinem Körper zu spüren war mir unerträglich.

    Als ich die ersten Kondolenzbriefe öffnete, erinnerten mich meine eigenen Tränen auf meinen Händen an die Tränen von damals, und ich ließ sie fließen, um zu sehen, wohin die meiner Mutter verschwunden waren, meiner Mutter, die ich so sehr geliebt hatte. Ich wusste, was in diesen Briefen stand: dass Maman eine außergewöhnliche Frau war, dass der Verlust eines geliebten Menschen schrecklich ist, dass nichts so sehr schmerzt wie diese Trauer, und so weiter, und so weiter, ich musste sie nicht lesen. Deshalb teilte ich die Umschläge jeden Abend in zwei Haufen: rechts die, die den Namen des Absenders trugen, links die, die keinen trugen, und ich begnügte mich damit, die Briefe auf dem linken Haufen zu öffnen und direkt zur Unterschrift zu springen, um zu sehen, wer mir geschrieben hatte und wem ich danken musste. Am Ende habe ich nicht vielen gedankt, und niemand hat es mir übel genommen. Der Tod entschuldigt jeden Mangel an Höflichkeit.

    Der erste Brief, den ich von Louis bekam, lag auf dem linken Haufen. Der Umschlag hatte meine Aufmerksamkeit
geweckt, noch bevor ich ihn öffnete. Er war viel dicker und schwerer als die anderen. Auch sein Format ließ nicht an eine Kondolenzkarte denken.
    Es war ein handgeschriebener Brief, mehrere Seiten lang und ohne Unterschrift.

    Annie hat immer zu meinem Leben gehört.
    Ich war zwei, als sie geboren wurde, zwei Jahre minus einige Tage. Wir wohnten im selben Dorf, und ich traf sie, ohne sie zu suchen, in der Schule, beim Spaziergang, in der Messe.
    Die Messe: eine schreckliche Stunde, in der immer das Gleiche passierte und die ich, eingeklemmt zwischen Vater und Mutter, unweigerlich über mich ergehen lassen musste. Die Plätze, die wir Kinder in der Kirche einnahmen, waren ein Zeichen unseres Temperaments: zwischen den Geschwistern die Braven, zwischen den Eltern die Aufsässigen. In dieser Messesitzordnung, die unabgesprochen vom ganzen Dorf eingehalten wurde, machte Annie eine Ausnahme. Die Arme war Einzelkind. Ich sage »die Arme«, weil sie sich ständig darüber beklagte.
    Ihre Eltern waren schon alt, als sie auf die Welt kam. Annies Geburt war für sie ein solches Wunder, dass kein Tag verging, ohne dass sie »wir drei« sagten, einfach so, bei jeder Gelegenheit, während Annie bedauerte, kein »wir vier«, »wir fünf«, »wir sechs« zu hören. Jede Messe führte ihr die traurige Tatsache vor Augen: allein in ihrer Bank.
    Während ich heute glaube, dass die Langeweile der beste Nährboden für die Phantasie ist, verkündete ich damals, der beste Nährboden für die Langeweile sei die Messe. Ich hätte nie gedacht, dass ich dort jemals irgendetwas erleben würde. Bis zu jenem Sonntag.

    Schon beim ersten Lied erfasste mich ein starkes Unwohlsein. Alles war aus dem Gleichgewicht, der Altar, die Orgel, sogar Christus am Kreuz.
    »Hör auf zu seufzen, Louis, du bist lauter als alle anderen!«
    Diese Vorhaltung meiner Mutter, verbunden mit dem Unwohlsein, das mich nicht losließ, lockte einen tief in mir vergrabenen Satz hervor, den ihr mein Vater eines Abends zugeflüstert hatte: Pater Fantin hat seinen letzten Seufzer getan.
    Mein Vater war Arzt und kannte alle Ausdrücke, um den Tod eines Menschen zu verkünden. Er flüsterte mal den einen, mal den anderen ins Ohr meiner Mutter. Aber wie jedes Kind besaß ich die Fähigkeit, wahrzunehmen, was die Großen tuschelten, und ich hörte sie alle: seinen Geist aufgeben, aufrecht sterben, den Löffel abgeben, sanft entschlummern. Den letzten mochte ich gern, er legte die Vorstellung nahe, es würde nicht so wehtun.
    Vielleicht starb ich gerade!
    Schließlich weiß man nie, wie sich das anfühlt, bis man wirklich stirbt.
    Und wenn der nächste Seufzer mein letzter sein würde? Entsetzt hielt ich den Atem an und drehte mich flehend zur Statue des Heiligen Rochus um. Er hatte Leprakranke geheilt, da konnte er wohl auch
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