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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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beendet hatte, brauchte ich jetzt mehrere Tage.
    Bei dem Brief musste es sich um einen Irrtum handeln, ich kannte keinen Louis und keine Annie. Ich drehte den Umschlag um, doch dort standen tatsächlich mein Name und meine Adresse. Sicherlich eine rein zufällige Namensgleichheit. Dieser Louis würde merken, dass er sich geirrt hatte. Ich machte mir keine weiteren Gedanken und öffnete die anderen Briefe, die richtige Kondolenzschreiben waren.

    Als gute Concierge hatte Madame Merleau den Stapel von Briefen natürlich richtig gedeutet und mir einen Zettel geschrieben: Wenn ich sie bräuchte, sollte ich nicht zögern, sie sei für mich da.
    Madame Merleau würde mir mehr fehlen als meine Wohnung. Die nächste Wohnung würde größer sein, aber die Concierge bestimmt nicht netter. Ich wollte nicht mehr umziehen. Wollte mich nicht mehr rühren, im Bett liegen bleiben, in diesem einen Zimmer, das mir vor kaum einer Woche unerträglich gewesen war. Ich wusste nicht, wie ich die Kraft aufbringen würde, mein Leben bis dorthin zu
schleppen. Aber ich hatte keine Wahl mehr, jetzt brauchte ich ein zweites Zimmer, und sowieso waren der Vertrag unterschrieben und die Anzahlung geleistet. In drei Monaten würde jemand anderes hier an meiner Stelle sein und ich dort, anstelle von jemand anderem, der wiederum an der Stelle von … und so weiter. Am Telefon hatte mir der Mann vom Umzugsunternehmen erklärt, es sei erwiesen, dass man irgendwann unweigerlich wieder auf sich selbst stieß, wenn man allen Gliedern dieser Kette folgte.
    Es war mir völlig gleichgültig, wenn ich irgendwann wieder auf mich stieß. Alles, was ich wollte, war, wieder auf meine Mutter zu stoßen. Maman wäre so glücklich gewesen zu erfahren, dass ich umzog. Sie mochte diese Wohnung nicht und hatte mich hier nur ein einziges Mal besucht. Ich habe nie verstanden, weshalb, aber so war sie eben, manchmal etwas zu absolut.

    Trotzdem musste ich Madame Merleau über meinen Auszug informieren und ihr für das Briefchen danken.
    »Ich bitte Sie, das ist doch das Mindeste.«
    Nichts geschieht, ohne dass eine Concierge es bereits wüsste. Sie war voller Anteilnahme und bat mich herein, falls ich reden wolle. Ich wollte überhaupt nicht, aber ich ging trotzdem für ein paar Minuten zu ihr hinein. Sonst unterhielten wir uns immer nur am Fenster, nie in ihrer Loge. Wenn ich nicht ohnehin gewusst hätte, wie ernst meine Lage war, hätte mir diese schlichte Einladung gereicht, um es zu begreifen.
    Nachdem sie den Vorhang hinter uns zugezogen hatte, schaltete sie den Fernseher aus und entschuldigte sich: »Sobald ich das verdammte Fenster aufmache, starren die Leute in meine Wohnung. Es ist stärker als sie. Ich glaube
nicht, dass sie wirklich neugierig sind. Trotzdem ist es mir unangenehm. Aber sobald der Fernseher läuft, schenken sie mir kaum einen Blick ... Zum Glück genügt das Bild als Ablenkung. Ich würde es nicht ertragen, den Fernseher auch noch den ganzen Tag lang zu hören.«
    Ich schämte mich, und sie merkte es.
    »Pardon, das habe ich nicht wegen Ihnen gesagt. Bei Ihnen stört es mich nicht, wenn Sie einen Blick in meine Wohnung werfen.«
    Ich war erleichtert. Ich stach also aus der aufdringlichen Allgemeinheit heraus.
    »Bei Ihnen ist es anders. Sie sind ja kurzsichtig.«
    Ich war verblüfft. »Woher wissen Sie das?«
    »Weil der Blick von Kurzsichtigen anders ist. Die Kurzsichtigen sehen einen immer besonders eindringlich an. Weil ihre Augen von nichts anderem abgelenkt werden.«
    Ich war sprachlos und fühlte mich plötzlich wie eine Behinderte, auf die alle mit dem Finger zeigen. Sah man das wirklich so deutlich?
    Madame Merleau lachte. »Nicht doch, ich nehme Sie auf den Arm. Sie haben es mir erzählt. Wissen Sie nicht mehr? An dem Tag, an dem ich Ihnen das mit meinen Fingern erzählt habe, haben Sie gesagt, das sei so ähnlich wie mit Ihren Augen. ›Leben heißt, von den Launen seines Körpers abhängig zu sein.‹ Das haben Sie gesagt. Ihre Erklärung hat mich ein wenig erschreckt, und ich merke mir immer alles, was ich erschreckend finde. Man muss sich stets erinnern, was man wem gesagt hat, sonst fällt es eines Tages auf einen zurück ... «
    Sie beugte sich lächelnd zu mir, um mir Kaffee einzugießen. Aber in diesem Moment wurde ihre Hand von starkem Zittern erfasst, und die heiße Flüssigkeit ergoss
sich über meinen Arm. Ich blies auf die verbrannte Stelle, um die Haut zu beruhigen, aber mehr noch, um Madame Merleau nicht anzusehen, so
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