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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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verlegen war ich, Zeugin ihrer Schwäche zu sein.

    Bevor sie Concierge wurde, war Madame Merleau Mieterin im Haus gewesen. Sie war ganz kurz nach mir eingezogen, zwei oder drei Monate. Ihr Klavier hallte durch alle Etagen, aber niemand beklagte sich, denn ihre Schüler waren gut, und so wurden die Stunden für die Mitbewohner nie zur Qual. Im Gegenteil, dieses ständige Konzert war angenehm.
    Dann aber hörten wir das Klavier immer seltener. Ich dachte erst, dass ihre Schüler vielleicht heirateten und Verheiratete keinen Unterricht mehr nehmen. Schließlich verstummte das Klavier jedoch ganz und gar, und eines Tages öffnete Madame Merleau das Fenster der Hausmeisterloge. Sie hatte akuten Gelenkrheumatismus.
    Die Ärzte hatten gesagt, sie sei noch sehr jung dafür, aber es komme besonders bei Berufsmusikern auch in ihrem Alter vor. Weil die Gelenke ständig beansprucht würden, ermüdeten sie schneller. Irgendwann werde sie die Kontrolle und die Beweglichkeit ihrer Finger verlieren, aber sie müsse sich keine Sorgen machen: Für den Alltag werde sie die Hände immer noch gebrauchen können, zum Essen, Waschen, Kämmen, den Haushalt machen. Nur für ihren Beruf reiche es nicht mehr.
    In wenigen Wochen verlor Madame Merleau die kostbare Fingerfertigkeit, für deren Erwerb ihre Hände so viele Jahre gebraucht hatten.
    Die Krankheit erschütterte sie zutiefst. Wovon sollte sie leben? Der Unterricht war ihre einzige Einnahmequelle, sie
hatte keine Ersparnisse und niemanden, der sie unterstützen würde, und sei es nur, bis sie sich neu orientiert hätte. Weder Eltern noch Kinder.
    Als sie erfuhr, dass die Concierge wegziehen würde, hatte man ihr zuvor wochenlang bei jeder Bewerbung erzählt, dass sie weder das richtige Alter noch die nötigen Kenntnisse für die ausgeschriebene Stelle habe. Also fragte sie den Eigentümer des Hauses, ob sie die Stelle der Concierge übernehmen könne, und er war einverstanden.
    Sie trennte sich von ihrem Klavier, weil sie fand, eine schlecht gelebte Leidenschaft sei eine Last, die man aufgeben müsse, damit eine neue Leidenschaft entstehen könne. Warum nicht Astrologie? Das würde gut zu ihrem neuen Beruf als Concierge passen, die immer eine gut informierte Klatschbase zu sein hatte. Und es würde ihr helfen, ihre Anfälle von Ungeschicklichkeit vorauszusagen.

    Wenn sie gewusst hätte, dass sie Kaffee über mich gießen würde, hätte sie mir nicht eingeschenkt.
    Sie lächelte mich entschuldigend an. »Mit diesem Pullover kann ich Sie nicht zur Arbeit lassen. Gehen Sie bitte hoch und ziehen Sie sich um. Ich bringe ihn zur Reinigung, heute Abend ist er sauber. Es tut mir wirklich leid.«
    »Machen Sie sich keine Gedanken, es geht schon so.«
    »Ich bestehe darauf.«
    Ich bestand nicht darauf und ging wieder hoch. Sie konnte nicht wissen, dass ich keinen sauberen Pullover mehr im Schrank hatte, dass ich überhaupt nichts mehr im Schrank hatte, dass meine Sachen auf dem Boden lagen und ich gleichgültig darüber hinweglief. »Wie Vater«, sagte ich mir, sobald ich ein Stück Stoff unter meinen Füßen spürte, und in Gedanken flehte ich Maman an: »Heb sie auf, bitte heb
sie auf! Du hebst doch auch Vaters Sachen auf. Heb bitte meine Sachen auf!«
    Aber Maman hob sie nicht auf. Ich griff nach meiner Jacke, die nach Zigaretten roch. Ich musste jetzt wirklich aufhören zu rauchen.
    Madame Merleau winkte mir hinter ihrem Fenster zu. Als ich die Gardine flattern sah, kam mir kurz der Gedanke, dass der letzte Überlebende einer Familie niemals Gegenstand von Kondolenzbriefen ist. Bei der ganzen Aufregung hatte ich vollkommen vergessen, ihr zu sagen, dass ich auszog, aber wenigstens hatten wir nicht über Maman gesprochen. Madame Merleau schien sich auf dem Feld der Klagen ebenso wenig wohlzufühlen wie ich. Umso besser.

    Als ich abends nach Hause kam, wunderte ich mich, keine Post im Briefkasten zu haben. Offenbar war schon Schluss mit den Kondolenzschreiben.
    Magere Beute, Maman.
    Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf, und ein intensiver Geruch von Sauberkeit schlug mir entgegen. Alles war aufgeräumt, der Abwasch, zu dem ich mich seit mehreren Tagen nicht mehr aufgerafft hatte, war erledigt, meine Wäsche gewaschen und gebügelt, das Bett frisch bezogen. Durch die Zimmertür sah ich ein Licht flackern.
    Vielleicht Mamans weißer Geist, der mich anlächeln würde, sobald ich das Zimmer betrat.
    Es war der Fernseher, der ohne Ton lief.
    Madame Merleau.
    Mein Pullover hing gut sichtbar
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