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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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gefolgt, wo sie oft malte. Sie zeigte mir gern ihre Bilder und wollte hören, was ich von ihnen hielt. Dieses war ziemlich gelungen. Es gab alle Spuren der neuen Bewegung wieder. Fensterläden öffneten sich, Staub wolkte aus den Fenstern, der urbar gemachte riesige Garten sah wieder aus wie ein Park. Annie war ziemlich zufrieden. Nur über den Mann ärgerte sie sich.
    »Den habe ich verpatzt. Er humpelt, aber das sieht man hier nicht. Ich habe sowieso immer Probleme, Bewegungen darzustellen. Bei einem Hinkenden schaffe ich es noch weniger. «
    Ich wies sie darauf hin, dass offenbar eine ganze Familie einziehen würde. Sie fragte, wie ich darauf käme. Ich zeigte ihr auf ihrer Leinwand eine Wiege und einen Kinderwagen. Seltsamerweise hatte sie beides nicht bemerkt, obwohl sie es gemalt hatte.
    Spürt der Mensch die Gefahr so stark, dass er sie leugnet? Annie versank in verträumtem Schweigen. Ich ahnte, dass ihr Pinsel schon das Kind am Rockzipfel seiner Mutter erfasste.

    Sobald ich den Ursprung des Dramas suche, komme ich immer zu derselben Schlussfolgerung: Wenn Annie nicht so gern gemalt hätte, wäre das alles nicht geschehen. Davon bin ich genauso überzeugt, wie andere behaupten, wenn Hitler nicht bei der Aufnahmeprüfung der Kunsthochschule durchgefallen wäre, würde die Welt heute anders aussehen.

    Madame M. wurde auf ein junges Mädchen aufmerksam, das malte. Sie bat es auf eine Tasse Tee herein. Anders wären sie sich nie begegnet, wären einander zwei Fremde geblieben, die, angefangen bei ihrer Geburt, alles voneinander trennte. »Madame M. langweilt sich so ganz allein«, kommentierten die einen, »und außerdem ist sie noch so jung«, ergänzten die anderen. Das ganze Dorf suchte nach Gründen für diese unnatürliche Freundschaft zwischen der Dame aus großer Familie und der kleinen Annie. Nachdem sie die allzu demütigende Erklärung »Die Reichen mögen die Armen, wenn sie schön sind« verworfen hatte, legte sich die Stimme des Volkes schließlich auf »Die Reichen mögen die Künstler« fest, und ich glaube, sie hatte recht.
    Alle gewöhnten sich an diesen Umgang, ja, waren sogar irgendwie stolz darauf. Alle außer mir. Ich beobachtete diese Freundschaft mit schiefem Blick. Annie, das wilde Geschöpf, schien in dieser jungen Frau den Menschen gefunden zu haben, den man nur einmal im Leben trifft und der alle anderen ersetzt. Als sie sich angewöhnte, bei Madame M. eine Tasse Tee zu trinken, gab Annie alle anderen Gewohnheiten auf, also auch mich. Sie entfernte sich aus meinem Leben, besser gesagt: Sie entfernte mich aus ihrem. Und zwar ohne jede Schwierigkeit, ohne mir die geringste Erklärung zu geben. Sie ignorierte mich nicht, viel schlimmer: Sie grüßte mich immer noch mit dieser entsetzlichen kleinen Handbewegung, die zeigte, dass sie mich gesehen hatte, aber nie mehr mit der, die mich zu ihr rief.
    Die Liebe ist ein geheimnisvolles Prinzip, ihr Ende noch viel mehr. Man weiß vielleicht, warum man liebt, aber niemals, warum man nicht mehr liebt.

    Dabei hätte es bleiben können, ich hätte sicher irgendwann meinen dumpfen Ärger und eifersüchtigen Zorn hinuntergeschluckt. Aber der Einzug der M.s in L’Escalier sollte zu einer nicht aufzuhaltenden Tragödie führen.

    Ob ich mich also an die M.s erinnerte?
    Ich antwortete Annie, dass sie mich ebenso gut fragen könnte, ob ich mich erinnerte, dass wir den Krieg verloren hatten.
    Sie war spürbar nervös und rührte unaufhörlich mit dem Löffel in ihrer Tasse. »Vergleiche nicht, was sich nicht vergleichen lässt.«
    Annie zog langsam ihren Pullover über den Schultern zusammen. Mein Blick war auf sie gerichtet, ihr Blick war irgendwo. Sie wollte mir nicht nur unsere »ersten Male« erzählen. Sie hatte mich lediglich daran erinnert, um das Recht zu erhalten, mir dann zu erzählen, was ihr wirklich wichtig war, genauso, wie man sich höflich ein paar Neuigkeiten anhört, ehe man sich in einen Monolog stürzt, der nur von einem selbst spricht.
    »Ich muss dir etwas gestehen. Ich muss dir erzählen, was wirklich bei den M.s geschehen ist. Du bist der Einzige, dem ich es sagen kann ... «

Hier endete der Brief. Ich würde erneut warten müssen, um die Fortsetzung zu erfahren.
    Genau das, dieser »Cliffhanger« am Ende jedes Briefes, setzte mir einen Floh ins Ohr. Er brachte mich darauf, den Brief mit einem anderen Blick zu lesen, meinem Verlegerinnenblick.
    Das Schreiben hatte eindeutig etwas Literarisches. Und jetzt, wo es mir auffiel,
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