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Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula
Autoren: Roderick Anscombe
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verschwendete viel Zeit mit anstrengenden, aber völlig unwirksamen Manövern auf den um die Blumenbeete herumführenden Wegen, so daß sie noch einmal einen Aufschub herausholte und stehenblieb, um in Ruhe weiterzulesen und mich über die Geranien und die kleinen Buchsbaumhecken hinweg, über die ich, wenn ich ein anderes Spiel gewollt hätte, leicht hätte springen können, mit meinen eigenen Worten neckte. Als ich mich bereit fühlte, ihr Atemlosigkeit vorzutäuschen, ging ich, während sie die letzten Zeilen meiner Verse mit einer Art nervösen, angenehm erregenden Bosheit laut vorlas, die mein Herz pochen ließ, auf sie zu. Sie hatte das Gedicht zu Ende gelesen, kehrte jetzt aber an den Anfang zurück, um es noch einmal in aller Stille zu genießen, um hungrig die bewundernden Worte in sich aufzunehmen.
    »Du hast alles gelesen«, sagte ich in tragischem Ton. »Du weißt alles über mich, was mir wichtig ist. Gib mir jetzt wenigstens mein Gedicht zurück, damit ich es als Andenken aufheben kann.«
    »Niemals«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang, als würde sie Böses im Schilde führen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn dieses Spiel einer ernsteren, heroischeren Stimmung Platz gemacht hätte.
    Sie lief wieder weg, und ich folgte ihr etwas langsamer. Aber indem ich ihr Zeit ließ, sich selbst den Schauplatz für unser unbekanntes Finale auszusuchen, verlor ich ihre Spur. Eine Weile suchte ich vergebens auf überwachsenen Pfaden nach ihr, dann hörte ich rechts von mir einen leisen Schrei. Sie hatte versucht, unter einem Rosenbogen durchzugehen, der nach vielen Jahren der Vernachlässigung einer grünen Höhle mit dornigen Ranken glich, und der lose Stoff, aus dem das Mieder und die Ärmel ihres Kleides waren, hatte sich darin verfangen. Absolut reglos, in einer unnatürlichen Pose erstarrt, stand sie da.
    »O bitte«, flehte sie, und mir wurde klar, daß sich irgendwo ein Dorn in ihre Haut bohren mußte.
    Die Ranken hatten sich an ihrer Schulter verfangen und schlangen sich um ihren Arm. Ich trat hinter sie, beugte mich nach vorn, um über ihre Schulter zu blicken, und konnte die Konturen ihrer zart sprießenden Brüste sehen, die sich erregt hoben und senkten. Betäubt atmete ich den moschusartigen, unparfümierten Duft eines jungen Mädchens an einem warmen Sommertag ein.
    »Tu doch etwas!« forderte sie.
    Ich riß meinen Blick von ihren Brüsten los, um die Quelle ihrer Schmerzen zu finden. Der Rosenzweig war dick und holzig, mit bösartigen, dunklen Dornen.
    Aber als ich ihn von ihrem Arm ziehen wollte, hörte ich das Reißen von Stoff.
    »Nein, nein!« rief sie wütend und stampfte mit dem Fuß auf. Sie hatte mein Gedicht fallen gelassen, und es lag vergessen auf den feuchten Steinen am Boden.
    Vorsichtig löste ich den Dornenzweig, der sich an ihrer Schulter im Kleid verfangen hatte. Das Holz war hart und steif, aber es hatte sich bei Nicoles Versuchen, sich loszumachen, gebogen, und als ich jetzt das eine Ende losließ, schnappte es mit einem plötzlichen Ruck zurück. Nicole schrie auf. Hinten an ihrem Arm hatte sich über dem Ellbogen ein dicker Dorn tief in ihre weiße Haut gebohrt, und an seinem Ende bildete sich eine dunkle rote Perle.
    Sie sah mich mit weit aufgerissenen ängstlichen Augen an. »Zieh ihn raus.
    Bitte!« sagte sie, als glaubte sie, ich würde sie vielleicht nicht loslassen.
    Ich zog den Dorn aus ihrem Arm und hätte auch noch das Blut gestillt, wenn sie sich nicht losgerissen hätte und davongelaufen wäre. Als ich unter dem Rosenbogen wieder ans Sonnenlicht kam, war sie schon, ohne sich umzusehen, den halben Weg über den Rasen gelaufen.
    Kurze Zeit, nachdem Tante Sophie und Nicole wieder nach Frankreich zurückgefahren waren, ist Mutter gestorben, und man schickte mich auf ein Internat.

    24.MAI 1866

    An diesem Morgen klopfte Madame Thébauld, die Concierge, an meine Tür. Ich habe noch nie erlebt, daß sie ihren Posten am Eingang des kleinen Hotels zu unserem Gebäude verließ, und schon gar nicht für eine Besorgung, die einen der Mieter betrifft. Wir sind eine liederliche Schar, wie sie jedem einzelnen von uns durch ihr mißbilligendes Schnauben zu verstehen gibt, wenn wir bei ihr vorbeikommen, und ihre ewige Wachsamkeit ist nötig, um uns vor der Ver-dammung zu retten.
    »Jemand mit einer Botschaft«, verkündete sie.
    Ich sah, daß jemand hinter ihr stand, konnte aber in dem trüben Licht des Korridors nicht erkennen, wer es war. Madame trat auf die Seite, und der Lakai aus
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