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Jenseits des Spiegels

Jenseits des Spiegels

Titel: Jenseits des Spiegels
Autoren: Stefanie Markstoller
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Prolog
    Nachdem die Schreie seiner Mamá verstummt waren, war sein Schluchzen das einzige Geräusch in dieser Nacht.
    Sie waren im Schutz der Dunkelheit gekommen, lautlos wie Schatten, und hatten sich das zurückgeholt, was ihnen gehörte, was ihnen durch eine List genommen worden war, doch seine Eltern hatten es nicht freiwillig geben wollen. Sie gaben nie das zurück, was sie sich genommen hatten, sie glaubten ein Recht auf all diese Dinge zu besitzen, doch dieses Mal war es anders gekommen.
    Tief in der Nacht war seine Mamá in sein Zimmer gestürmt, und hatte ihn nicht nur aus dem Schlaf, sondern auch aus dem Bett gerissen. Die ganze Luft hatte nach Blumen gerochen, so als wenn sie die Luft verzaubert hätte, um alle anderen Gerüche zu überdecken.
    Im Flur gab es unter dem Teppich eine geheime Luke, die seine Eltern direkt nach ihrem Einzug dort eingebaut hatten. Seine Mamá hatte sie hastig geöffnet, und ihn hineingesetzt. „Du musst ganz leise sein“, hatte sie gesagt, und ihm liebevoll über die Wange gestrichen. „Gib kein Mucks von dir.“
    Warum? Was war los? Er hatte es nicht verstanden. „Mamá, ich …“
    „Hier.“ Wie aus dem Nichts zauberte sie seine Kuscheldecke hervor, die, die er schon besaß, seit er ein kleines Baby war, und eigentlich gar nicht mehr brauchte, weil er schon groß war. Und doch hatte er sie lieb, und kuschelte noch immer gerne mit ihr. „Und nun sei still.“
    Mit einem letzten Blick auf ihn, hatte seine Mamá die Luke geschlossen. Durch die Ritzen war noch ein wenig Licht gefallen, aber nur, bis sie den Teppich wieder darüber gelegt hatte. Dann saß er in Dunkelheit und Stille.
    Warum nur musste er hier drinnen sein? Was war denn los? Ängstlich hatte er die Decke an sich gedrückt, und gewartet. Wo war nur sein Papá? Was hatte seine Mamá? So sonderbar hatte sie sich noch nie verhalten.
    Eine ganze Weile war es ruhig gewesen, dann war jemand durch die Tür gekommen, viele Jemande. Er hatte es an ihren Schritten gehört, hatte sie gezählt. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Er konnte schon zählen, war ein in-ti-li-genter kleiner Junge, das sagte seine Mamá immer. In-ti-li-gent. Ja, das war er.
    Sechs Leute waren gekommen. Dann hatte sein Papá gesprochen, er hatte die ruhige, tiefe Stimme gehört, die ihm abends immer eine Geschichte vorlas, damit er gut schlafen konnte.
    Aber jetzt hörte er diese Stimme nicht mehr. Sie war verstummt, genauso wie die seiner Mamá. Warum? Warum hörte er sie nicht mehr?
    Nachdem sein Papá gesprochen hatte, war es laut geworden. Jemand hatte wütend geantwortet, dann gab es einen Knall, einen Ruf, und dann hatte seine Mamá angefangen zu schreien. Sie hatte so laut geschrien, dass er sich die Ohren zuhalten musste, und diesen Laut doch nichts aussperren konnte.
    Er hatte das Kratzen auf dem Holzboden gehört, das Knurren, und die Schreie. Von seinen Papá war nichts mehr an seine Ohren gedrungen. Und dann hatte alles abrupt geendet. Kein Geräusch mehr, kein Schreien, nur noch Schritte. Er hatte sie gezählt. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Sie waren zur Tür gegangen, sechs Leute. Sechs Leute waren gekommen, und sechs wieder gegangen. Danach war alles ruhig gewesen.
    Jetzt wartete er darauf, dass seine Mamá ihn aus der kleine Luke holte, aber sie kam nicht. Warum kam sie denn nicht? Er konnte nicht ahnen, dass sie tot auf dem Teppich lag, direkt neben seinem Papá, der ihm nie wieder etwas vorlesen würde. Er wusste nicht, dass ihre leblosen Augen starr auf die Wand gerichtet waren, und ihr Blut langsam aber sicher durch den Teppich sickerte, und drohte auf den kleinen in-ti-li-genten Jungen zu tropfen.
     
    °°°°°

Tag 1
     
    „Geh weg“, nuschelte ich, und versteckte mein Gesicht unter meinem Arm. Aber natürlich ging, wer auch immer mich da gerade belästigte, nicht weg, sondern rüttelte mich noch nachdrücklicher an der Schulter. Jetzt, nachdem er die ersten Lebenszeichen von mir erhalten hatte, wollte er/sie wohl nicht so schnell nachgeben.
    Mein Schädel brummte, wie nach einer ausgiebigen Sauftour, und mein Rücken schmerzte protestierend auf, als ich versuchte es mir bequemer zu machen. Wo war ich hier eigentlich? Mein Bett jedenfalls war viel weicher … glaubte ich zumindest. Wo kamen nur diese höllischen Kopfschmerzen her? Ich konnte mich nicht erinnern. Kein klarer Gedanke reichte durch diesen Dunstnebel unter meiner Schädeldecke.
    Wieder ein Rütteln an der Schulter, nun schon ungeduldiger.
    „Oh
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