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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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ich glaube, dass das ihre heimlichen Favoriten sind.
    In meiner Schatzkiste habe ich ein Foto meines Dads. Es ist verblasst und an den Ecken gewellt, aber es ist mein absolutes Lieblingsfoto von ihm. Es ist aufgenommen worden, bevor ich geboren wurde, sogar bevor Ben zur Welt kam. Mein Dad sitzt in seinem Lieblingssessel und lächelt breit. Dieses Gesicht sieht so jung aus und ist so blass wie Milch, abgesehen von den Sommersprossen auf seiner Nase. Er sieht gesund aus, und seine Augen strahlen in einem hellen Grün. Er trägt abgewetzte Jeans und eine Footballjacke von den Willow Creek Wolverines. Aber am besten, am allerbesten ist das, was er in seiner Hand hält. Es ist keine Bierflasche, sondern eine Dose Cola, und er hält sie in Richtung Kamera, als wenn er demjenigen, der das Foto geschossen hat, zuprostet. Cheers, scheint er zu sagen, cheers.
    Ich hasse meinen Dad nicht. Ich glaube, ich habe es eine Zeit lang getan, aber jetzt nicht mehr. Ich hasse ihn nicht, aber ich vermisse ihn auch ganz sicher nicht. Nach dem Begräbnis ist meine Mutter mit uns in die Stadt gefahren, und wir haben so viel gelbe Farbe gekauft, wie in unser Auto passte. Wir haben das Haus gestrichen, wir drei. Jetzt hat es ein fröhliches, sanftes Gelb. Warm und gemütlich. Und überhaupt, diese ganze Woche damals war unglaublich schwer für alle von uns. Wir brauchten etwas, worauf wir uns freuen konnten, etwas Hoffnung, und ein gelbes Haus war immerhin ein Anfang. Zumindest hat Mom das gesagt. Ich habe ihr gesagt, wenn Dad mich an dem Morgen nicht betrunken in den Wald geschleppt hätte, wäre ich niemals über Petra gestolpert, und sie wäre gestorben. Also hat er auf eine Art den Tag sogar gerettet. Sie hat mich nur eine ganze Weile angeschaut, nicht sicher, was sie darauf erwidern sollte. Endlich sagte sie: „Mach keinen Helden aus deinem Vater. Er war kein Held. Er war ein einsamer Mann mit einer schlimmen Krankheit.“
    Wir gehen ein Mal im Jahr zum Grab meines Vaters, an seinem Geburtstag. Ben schimpft immer darüber, aber Mom besteht darauf. Sie sagt, dass wir die Dinge nicht mögen müssen, die er getan hat, aber trotzdem war er ein Teil unserer Familie, und wäre er nicht traurig, wenn er wüsste, dass keines seiner Kinder ihn wenigstens ab und zu mal besuchen kommt? Letztes Jahr hat Ben gelacht, als Mom das sagte, und seine Antwort war ganz schön frech: „Dad wäre nur dann froh, uns zu sehen, wenn wir ein Sixpack mitbringen würden.“ Das hat er dann auch gemacht. Ben hatte beim nächsten Besuch auf dem Friedhof ein Sixpack Bier dabei. Er hat es direkt neben den Grabstein gestellt. Mom hat ihm befohlen, es wieder mitzunehmen, aber Ben und ich haben später darüber gelacht. Es war irgendwie witzig, wenn auch auf eine kranke Art.
    Und ich? Ich bin eigentlich ein ganz normales Kind. Ich gehe in die Schule und komme ganz gut mit. Ich habe Freunde und bin sogar Läuferin im Vierhundertmeter- und im Querfeldeinteam meiner Schule. Ich laufe gern, das war schon immer so. An manchen Tagen fühle ich mich, als könnte ich ewig laufen. Und es gefällt mir, dass ich nicht reden muss, wenn ich laufen gehe. Niemand erwartet von dir, dass du dich unterhältst, während du einen Achtkilometerlauf absolvierst.
    Ich gehe nur noch selten in den Wald, und niemals allein. Das macht mich besonders traurig. Ich habe den Wald mal geliebt. Er war mein ganz besonderer Ort. Aber wenn ich da bin, umgeben von Bäumen, schaue ich mich andauernd um, ob jemand hinter mir hergeschlichen kommt. Verrückt, nehme ich an. Mom hat Ben und mich gefragt, ob wir woanders hinziehen wollen, mehr in die Stadt, weg vom Wald. Aber wir haben beide verneint. Unser Haus ist unser Zuhause, und es gibt viel mehr gute Erinnerungen als schlechte. Mom hat darüber gelächelt, und ich war froh, dass sie sich durch unsere Entscheidung besser fühlte. Der Wald ist immer noch Moms Lieblingsplatz, und sie und Louis gehen oft darin spazieren. Ich habe sie gefragt, ob sie jemals Angst hat, wenn sie im Wald ist. Sie sagte Nein, der Wald liege ihr im Blut, sie könnte nicht Angst vor etwas haben, das so gut zu ihr gewesen sei. „Er hat dich zu mir zurückgeschickt, oder etwa nicht?“, meinte sie. Ich habe genickt. Vielleicht würde ich eines Tages ähnlich fühlen, aber nicht jetzt und nicht in naher Zukunft.
    Ich gehe immer noch regelmäßig zu meinen Treffen mit Dr. Kelsing, der Psychiaterin, die ich an dem Abend kennengelernt habe, als ich ins Krankenhaus gekommen bin. Es ist
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