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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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dürfen.
    Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, dass ich die Einzige war, die mir diese Erlaubnis erteilen konnte. Niemand sonst. Ich wünschte, meine Mutter würde das verstehen. Sie gibt sich immer noch die Schuld an allem, und ist das nicht eine zu schwere Last, um sie mit sich herumzutragen?
    Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Für eine lange Zeit habe ich gedacht, ich sei schuld daran, dass meine kleine Schwester Poppy gestorben ist, als ich vier war. Verrückt, würde man denken. Wie könnte eine Vierjährige für den Tod eines Babys verantwortlich sein? Nun stellen Sie sich Folgendes vor: Die gleiche Vierjährige beobachtet ihre Mutter und ihren Vater, die sich oben auf der Treppe streiten. Und diese Vierjährige sieht, wie ihre Mutter rücklings die Treppen hinunterfällt, die Hände Hilfe suchend nach ihrer Tochter ausgestreckt. Jetzt stellen Sie sich diese Vierjährige vor, wie sie weint und weint, einfach nicht aufhören kann. Verständlich. Jetzt sehen Sie, wie der Vater der Vierjährigen versucht, sie zum Schweigen zu bringen, nicht mit Umarmungen und kleinen Küssen, sondern mit geflüsterten Worten. „Halt den Mund, Calli. Wenn du nicht still bist, wird das Baby sterben. Willst du, dass das passiert? Willst du, dass das Baby stirbt? Wenn du nicht aufhörst, wird deine Mutter sterben.“ Immer und immer wieder, geflüstert in das Ohr der Vierjährigen. Und das Baby starb, meine kleine Schwester, die klatschmohnrote Haare hatte, deren Haut so weich war wie Blütenblätter. Ich habe an diesem Tag meine Worte verschluckt und gespürt, wie sie wie Glasscherben meine Kehle hinunterglitten; es gab keine Möglichkeit mehr, sie zusammenzusetzen und zu reparieren, sodass sie wieder ausgesprochen werden konnten. Also weiß ich, wie es sich anfühlt, sich für etwas verantwortlich zu fühlen, über das man wirklich keine Kontrolle hat. Und genau so ist es für meine Mutter.
    Petra ist in dem Jahr, in dem das alles passiert ist, nicht in die Schule zurückgekehrt. Sie war sehr lange im Krankenhaus. Man hat sie mehrfach operiert, und sie ist beinah zwei Monate in Iowa City geblieben, und dann noch mal einen Monat in unserem örtlichen Krankenhaus. Meine Mutter hat mich einmal die Woche zu ihr gebracht, wenn es Petra gut genug ging, um Besuch zu empfangen. Es ist seltsam, wir haben während dieser Besuche nicht viel miteinander gesprochen, obwohl ich doch wieder reden konnte. Es gab keinen Grund dazu – zu reden, meine ich. Wir konnten einfach sein.
    Ungefähr anderthalb Jahre später ist Petra mit ihrer Familie weggezogen. Sie war danach nie wieder dieselbe. Sie ging anders, und aufgrund ihrer Kopfverletzungen fiel ihr die Schule viel schwerer. Ich glaube nicht, dass irgendjemand sich über sie lustig gemacht hat; zumindest nicht, wenn ich dabei war. Ich glaube, dass sie allen, Erwachsenen und Kindern, so leidtat, dass es ihr, egal wie, nicht möglich gewesen wäre, dasselbe Mädchen zu sein, das sie vorher gewesen war. Kinder in unserem Alter wussten nicht, was sie zu ihr sagen sollten, und die Erwachsenen bekamen immer diesen traurigen, besorgten Gesichtsausdruck. Doch alles, was Petra wirklich wollte, war, wie jeder andere zu sein.
    Ich glaube jedoch, dass es der Gerichtsprozess war und alles, was damit zusammenhing, was die Gregorys schließlich zum Umzug bewogen hat. Ihr Vater fühlte sich am schlimmsten. Er war derjenige, der Lucky in seinem Haus willkommen geheißen hatte, ihn mit kleinen Aufgaben in Haus und Garten betraut und ihm den Job im Mourning Glory verschafft hatte. An dem Morgen, als sie verschwand, hatte Petra Lucky und seinen Hund Sergeant durchs Fenster gesehen. Sie ist ihnen nachgelaufen, um Hallo zu sagen, und er hat sie sich geschnappt, als sie schon ein ganzes Stück in den Wald hineingegangen waren. Später habe ich erfahren, dass Lucky alles gegeben hat, damit Petra ihn mochte und ihm vertraute. Er hat ihr immer kleine Geschenke gemacht, wenn er zu ihr nach Hause kam oder sie ins Mourning Glory ging. Er hat ihr sogar erzählt, dass er oft mit Sergeant im Wald hinter ihrem Haus spazieren gehe und es toll fände, wenn sie ihn mal begleiten würde. Lucky hat auch seinen Hund umgebracht. Es scheint so, als wenn Sergeant versucht hat, Petra zu beschützen, als Lucky sie missbrauchen wollte. Sergeant hat Lucky gebissen und wurde dafür mit seiner eigenen Leine erwürgt.
    Alle Gregorys mussten in den Zeugenstand und meine Familie auch. Es war eine lange, ermüdende und verwirrende
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