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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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verlassen und mich auf den Weg nach Iowa City zu begeben, um endlich mit meinen Mädchen zusammen zu sein. Als ich gerade versuche, meine Schuhe zuzubinden, betritt Antonia Clark mein Zimmer. Sie setzt sich auf die Kante eines Stuhls, während ich darauf warte, dass der Arzt mit meinen Entlassungspapieren kommt.
    „Ich hätte bei euch vorbeischauen sollen“, sage ich entschuldigend. „Wie geht es Calli und Ben?“
    „Bei ihnen wird alles wieder gut“, sagt sie mir. „Wie geht es Petra?“
    „Sie hat die Operation überstanden. Sie schläft noch, aber es scheint, dass der Chirurg den Druck auf ihr Gehirn mindern konnte.“
    Schweigend sitzen wir eine Weile zusammen, bevor ich endlich die Worte hervorstoßen kann, die gesagt werden müssen. „Es tut mir leid, Antonia. Es tut mir so leid, dass ich mit einer Waffe zu deinem Haus gegangen bin. Ich habe wirklich geglaubt, Griff habe etwas damit zu tun, was Petra passiert ist. Das ist keine Entschuldigung, ich weiß, aber es tut mir leid. Meinetwegen ist er tot.“
    „Martin, sieh dir an, was Griff mit deinem Kopf gemacht hat. Sieh dir an, was er Calli angetan hat. Betrunken hat er sie um vier Uhr morgens ohne Schuhe in den Wald gezerrt, damit er sie zu dem Mann bringen konnte, von dem er dachte, er sei ihr wirklicher Vater. Seinetwegen haben sie sich verlaufen; er hat seinen Sohn zusammengeschlagen und mir eine Waffe an den Kopf gehalten. Griff war kein so großartiger Mann, Martin.“
    „Nein“, sage ich vorsichtig. „Aber es tut mir trotzdem leid, dass er tot ist. Es tut mir leid, dass deine Familie das jetzt auch noch durchmachen muss.“
    „Wir kommen schon klar. Wir haben einander, und das ist das Wichtigste, richtig?“
    Ich nicke.
    „Hast du jemanden, der dich nach Iowa City bringt? Du wirst doch nicht selber fahren, oder? Dein Kopf muss immer noch wehtun.“
    „Louis hat angeboten, mich zu fahren“, sage ich.
    „Er hat mir gesagt, dass sie den Mann verhaftet haben, der das getan hat“, meint Antonia.
    „Ja. Ich glaube, er ist irgendwo hier im Krankenhaus“, erwidere ich.
    „Du wirst aber nicht versuchen, an ihn heranzukommen, oder?“
    „Nein, ich habe meine Lektion gelernt. Und außerdem scheint es, dass Lucky es geschafft hat, sich schwer zu verletzen, als er von der Klippe gefallen ist.“
    „Ich erinnere mich an ihn. Ich habe ihn einmal bei euch zu Hause getroffen, mit seinem Hund“, sagt Antonia behutsam.
    „Ja. Ich dachte, ich kenne ihn gut“, erwidere ich.
    Antonia streckt ihre Hand aus und berührt meinen Arm. „Es ist nicht dein Fehler“, sagt sie sanft.
    „Diese Frage werde ich mir wohl noch eine lange Zeit stellen. Wenn ein Vater sein Kind nicht beschützen kann, wer dann?“
    „Du bist ein wundervoller Vater, Martin. Ich habe gesehen, wie du mit Petra umgehst. Fielda hat eine gute Wahl getroffen. Ich wünschte, ich hätte auch so weise gewählt.“
    „Wenn du dich anders entschieden hättest, hättest du jetzt nicht die Kinder, die du hast“, erinnere ich sie.
    Sie lächelt. „Ich habe großartige Kinder, nicht? Wir beide. Jetzt geh zu Petra. Wenn sie aufwacht, will sie bestimmt ihren Vater sehen. Dann könnt ihr beide eure Stiche vergleichen.“
    Ich lache. Das habe ich seit langer Zeit nicht mehr getan. Es fühlt sich gut an. Es fühlt sich an, als wenn eines Tages alles wieder normal sein könnte. Ich stehe mit zitternden Beinen auf, mein Kopf tut noch weh, und mache mich auf die Suche nach meinem Arzt. Ich muss unbedingt zu meiner Tochter und meiner Frau.

EPILOG
    Calli
    Sechs Jahre später
    Ich denke oft an diesen Tag zurück, der so lange her ist, und frage mich, wie wir alle überlebt haben. Für alle von uns war es ein dunkler, trauriger Tag. Besonders für meine Mutter, glaube ich, auch wenn sie immer sagt: „Auf eine Art war es auch gut. Du hast an dem Tag deine Stimme wiedergefunden, Calli. Deswegen war es ein guter Tag.“
    Ich habe es nie als „Wiederfinden“ betrachtet, weil ich meine Stimme nicht wirklich verloren hatte. Es war mehr wie ein zu tief in die Flasche gedrückter Korken. Oft stelle ich es mir genau so vor: meine Stimme wie süß duftendes Parfüm in einer teuer aussehenden Flasche mit einem schön geschwungenen Griff, groß und schlank, aus einem Glas so blau wie die Libellen, die in den Willow Creek Woods umherfliegen. Meine Stimme hat nur auf den richtigen Moment gewartet, um aus der Flasche zu kommen. Nein, sie war nie verloren; ich brauchte nur die Erlaubnis, sie wieder benutzen zu
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