Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fenster zum Hof

Das Fenster zum Hof

Titel: Das Fenster zum Hof
Autoren: Cornell Woolrich
Vom Netzwerk:
Wohnung gewesen war.
Ihm schien nichts aufzufallen. Sie waren geschickt vorgegangen.
    Er ging nicht mehr weg in dieser Nacht.
Er fühlte sich in seiner Wohnung sicher wie in Abrahams Schoß. Ab und zu
genehmigte er sich einen Schluck. Er saß am Fenster, und seine Hand bewegte
sich ein paarmal in Richtung Mund, aber nicht allzu häufig. Anscheinend hatte
er alles unter Kontrolle, und seine Anspannung hatte nachgelassen, jetzt, wo
der Koffer weg war.
    Während ich ihn über den nächtlichen
Hof hinweg beobachtete, stellte ich allerlei Spekulationen an: Warum haut er
nicht ab? Wenn ich recht habe mit meinem Verdacht, und ich habe recht, warum
hängt er dann immer noch da rum? Die Antwort darauf ergab sich von selbst: Weil
er nicht weiß, daß ihm jemand auf die Schliche gekommen ist. Er sieht keinen
Grund zur Eile. Die Wohnung zu schnell zu verlassen wäre gefährlicher, als noch
eine Weile zu bleiben.
    Die Nacht zog sich hin. ich saß da und
wartete auf Boynes Anruf. Der kam später, als ich erwartet hatte. Ich griff im
Dunkeln nach dem Hörer. Er machte sich gerade fertig, um ins Bett zu gehen, der
dort drüben. Er war von seinem Platz in der Küche, wo ich ihn beim Trinken
beobachtet hatte, aufgestanden und hatte das Licht ausgemacht. Er ging ins
Wohnzimmer und knipste dort das Licht an. Dann fing er an, sich das Hemd aus
der Hose zu ziehen. Boynes Stimme erklang in meinem Ohr, während ich mit den
Augen drüben bei ihm war. Eine Art Dreiecksverhältnis.
    »Hallo, Jeff? Hör zu, da war rein gar
nichts! Wir haben alles durchsucht, während er weg war...«
    Ich hätte beinahe gesagt: »Ich weiß,
ich hab’s gesehen«, aber ich beherrschte mich gerade noch rechtzeitig.
    »...und nichts gefunden. Aber...« Er
hielt inne, als wolle er jetzt etwas Wichtiges sagen. Ich wartete voller
Ungeduld darauf, daß er weiterredete.
    »Unten in seinem Briefkasten lag eine
Ansichtskarte. Wir haben sie mit zurechtgebogenen Stecknadeln herausgefischt...«
    »Und?«
    »Und sie kommt von seiner Frau, ist
gestern geschrieben worden, auf irgendeiner Farm im Landesinneren. Wir haben
abgeschrieben, was draufstand: ›Bin gut angekommen. Es geht mir schon ein
bißchen besser. Alles Liebe, Anna.‹«
    Ich wandte, nicht sehr überzeugt, aber
hartnäckig ein: »Du sagst, sie ist gestern geschrieben worden. Hast du’n Beweis
dafür? Wann ist sie abgestempelt ?«
    Er gab ein gereiztes Knurren von sich,
ganz tief aus seinem Rachen. Das galt mir, nicht dem Zettel in seiner Hand.
»Der Stempel war verwischt, eine Ecke ist naß geworden, und die Tinte ist
verlaufen .«
    »Ist alles verwischt ?«
    »Nur ein Teil des Datums«, räumte er
ein. »Die Uhrzeit und der Monat waren gut zu lesen. August. Um halb acht abends
wurde sie abgestempelt .«
    Diesmal kam das gereizte Knurren von
mir. »Halb acht im August — 1937 oder 1939 oder 1942. Ich weiß nicht, wie das
Ding in seinen Briefkasten gekommen ist, ob aus der Tasche eines Briefträgers
oder ganz hinten aus einer Schublade !«
    »Gib auf, Jeff«, meinte er. »Man kann’s
auch übertreiben .«
    Ich weiß nicht, was ich darauf erwidert
hätte. Wenn mein Blick nicht gerade auf die Wohnzimmerfenster der Thorwalds
gefallen wäre, meine ich. Wahrscheinlich nicht viel. Die Karte hatte mich ganz
schön ins Wanken gebracht, ob ich es zugab oder nicht. Aber ich war mit den
Augen gerade dort drüben. Das Licht war ausgegangen, sobald er sein Hemd
abgestreift hatte. Aber im Schlafzimmer ging kein Licht an. Nur ein Streichholz
flackerte auf, im Wohnzimmer, tief unten, wie von einem Sofa oder einem Sessel
aus. Er ließ die zwei Betten im Schlafzimmer unberührt und schlief weiter da
draußen.
    »Boyne«, sagte ich in beißendem Ton.
»Es ist mir piepegal, wieviele Ansichtskarten aus dem Jenseits du noch
auftreibst, ich sage dir, dieser Mann hat seine Frau beiseite geschafft! Such
den Koffer, den er verschickt hat. Wenn du ihn gefunden hast, mach ihn auf -
und ich denke, dann hast du sie !«
    Und ohne mir anzuhören, was er weiter
unternehmen wollte, legte ich auf. Er rief nicht nochmal an, deshalb vermutete
ich, daß er, trotz seiner lautstark zum Ausdruck gebrachten Skepsis, es mal mit
meinem Vorschlag versuchen würde.
    Ich blieb die ganze Nacht am Fenster
sitzen, hielt eine Art Totenwache. Noch zwei weitere Male flackerten Streichhölzer auf, im Abstand von etwa einer halben Stunde. Dann
keins mehr. Er war also möglicherweise eingeschlafen. Vielleicht auch nicht.
Ich benötigte selbst ein wenig Schlaf, und im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher