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Das Fenster zum Hof

Das Fenster zum Hof

Titel: Das Fenster zum Hof
Autoren: Cornell Woolrich
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Fernglas
ein.
    Es dauerte ein, zwei Minuten, dann
hatte ich ihn scharf vor Augen, sah ihn zum ersten Mal deutlich vor mir. Er
hatte dunkle Haare, stammte aber ohne jeden Zweifel von skandinavischen
Vorfahren ab. Er schien mir ein kräftiger Bursche zu sein, obwohl er nicht
allzu bullig wirkte.
    Etwa fünf Minuten verstrichen. Sein
Kopf ruckte herum, so daß ich sein Profil sah. Das war Sams Klingeln, genau.
Der Brief mußte schon unter der Tür stecken.
    Er wandte mir den Hinterkopf zu, als er
in Richtung Wohnungstür ging. Durch die Linsen des Fernglases konnte ich ihm
bis dorthin folgen, bis ganz nach hinten, wo ich ihn vorher mit bloßem Auge
nicht mehr hatte ausmachen können.
    Er machte zuerst die Tür auf, sah den
Brief nicht, schaute nur nach, ob jemand draußen stand, und schloß die Tür
wieder. Dann bückte er sich und richtete sich wieder auf. Er hatte ihn. Ich
sah, wie er ihn in den Händen hin und her drehte.
    Er ging weg von der Tür, näherte sich
wieder dem Fenster. Er glaubte, die Gefahr komme von der Tür, weiter von ihr
weg sei er sicherer. Er wußte nicht, daß es genau umgekehrt war, daß es immer
gefährlicher wurde, je weiter er sich in seine Wohnung zurückzog, von der Tür
weg.
    Er hatte ihn aufgerissen, las ihn. Mein
Gott, wie ich an seinem Gesichtsausdruck hing, meine Augen hatten sich an ihm
festgesaugt wie Blutegel. Plötzlich weiteten sich seine Augen, Spannung trat in
sein Gesicht, seine ganze Gesichtshaut schien sich hinter die Ohren
zurückziehen zu wollen und verengte die Augen wieder, zu mongoloiden Schlitzen.
Schock. Panik. Seine Hand schoß nach vorne, fand an der Wand Halt. Dann ging er
langsam zurück zur Tür. Ich sah ihn auf sie zuschleichen, sich an sie
heranpirschen, als wäre sie ein Lebewesen. Er öffnete sie einen Spalt weit, so
wenig, daß man es kaum erkennen konnte, lugte ängstlich hinaus. Dann schloß er
sie wieder und kam zurück, im Zickzack, vor lauter Bestürzung aus dem
Gleichgewicht geraten. Er ließ sich in einen Sessel fallen und griff sofort
nach einer Flasche. Diesmal machte er sich nicht die Mühe, sich erst ein Glas
einzuschenken. Und selbst, als er die Flasche an die Lippen führte, blieb sein
Kopf nach hinten gedreht, schaute er über die Schulter zu der Tür, die ihm,
ohne daß er damit gerechnet hatte, sein Geheimnis ins Gesicht geschrien hatte.
    Ich setzte das Fernglas ab.
    Schuldig! Und ob der schuldig war, zum
Teufel mit der Polizei!
    Meine Hand zuckte zum Telefon, zog sich
wieder zurück. Wozu war das nütze? Sie würden mir jetzt auch nicht eher zuhören
als zuvor. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen usw .« Ich hörte bereits Boynes Antwort: »Jeder kriegt ‘n Schock, wenn er einen
anonymen Brief bekommt, egal, ob das, was drinsteht, stimmt oder nicht. Das
ginge dir genauso .« Sie hatten eine quicklebendige
Mrs. Thorwald vorzuzeigen oder glaubten es zumindest. Ich würde ihnen die tote
Mrs. Thorwald präsentieren müssen, um zu beweisen, daß das zwei verschiedene Personen
waren. Ich mußte ihnen, von meinem Fenster aus, eine Leiche liefern.
    Zuerst aber mußte er mir zeigen, wo sie
steckte.
    Es dauerte Stunden, bis ich draufkam.
Ich ließ nicht locker, starrte unverwandt hinüber, während der Nachmittag
dahinschwand. Er ging die ganze Zeit dort drüben auf und ab wie ein Panther im
Käfig. Zwei Köpfe mit ein und demselben Gedanken, nur irgendwie
spiegelverkehrt: Was tun, damit es keiner entdeckte, beziehungsweise: Was tun,
damit es entdeckt würde?
    Ich fürchtete, er könne zu verduften
versuchen, aber wenn er das vorhatte, wollte er anscheinend bis nach Einbruch
der Dunkelheit warten, so daß ich noch ein wenig Zeit hatte. Möglicherweise
wollte er es auch gar nicht, es sei denn, jemand zwang ihn dazu — er hatte
vielleicht immer noch das Gefühl, daß das gefährlicher war, als zu bleiben.
    Die gewohnten Anblicke und Geräusche
rings um mich drangen nicht mehr bis zu mir durch, der Hauptstrom meiner
Gedanken rauschte wie ein Sturzbach gegen dieses eine Hindernis, das sich ihnen
wie ein Damm in den Weg stellte: Wie konnte ich ihn dazu bringen, mir den Ort
zu verraten, damit ich ihn wiederum der Polizei verraten konnte.
    Ich erinnere mich, wenn auch
undeutlich, wahrgenommen zu haben, wie der Hausbesitzer oder ein Makler einen
Interessenten durch die Wohnung im fünften Stock geführt hatte, durch die
Wohnung, die bereits fertiggestellt war. Das war zwei
Stockwerke über Thorwald; an der dazwischen wurde noch gearbeitet. Und da kam
es,
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