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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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hat man mit vierzig noch immer genügend Finger an der anderen frei. Es gibt so wenige Menschen, die zu lieben uns gegeben ist, und sie alle bleiben haften.
    Da also steht Nugent und bleibt in Ada Merriman haften, noch bevor die Uhr die Viertelstunde schlägt. Und sie in ihm – obwohl sie es noch nicht weiß oder zumindest so aussieht, als wüsste sie es nicht. Mittlerweile lässt das Tageslicht nach, und nichts geschieht. Das Zimmermädchen, das keiner von oben hat herunterkommen sehen, geht mit einem zweiten Tablett durchs Foyer, steigt abermals die Treppe hinauf und verschwindet im Dunkel des oberen Korridors. Sie hören, wie jemand in dem Raum hinter dem Empfangstresen eine Tür öffnet und sich nach einer Miss Hackett erkundigt. Und Ada Merriman richtet den Blick achtbar in den Raum hinein, wo Lamb Nugent von dem, was sie da stumm von sich gibt, kein einziges Wort glaubt.
    Die Luft zwischen ihnen ist zu dünn für Liebe. Das Einzige, was man in Dublin durch die Luft schleudern kann, ist eine Art Hohn.
    Dich kenne ich .
    Aber für all das ist es schon zu spät. Es ist bereits geschehen. Es geschah, als Ada zur Tür hereinkam, ihren Blick bis zum Stuhl schweifen ließ. Es geschah dank der Perfektion, mit der auch sie es zuwege brachte, präsent zu sein, ohne wahrgenommen zu werden. Der Rest war nur noch Erregung: Zunächst einmal, weil auch sie ihn bemerkte (und das tat sie – sie bemerkte seine Reglosigkeit), und zum Zweiten, weil sie ihn so lieben sollte wie er sie, jählings, uneingeschränkt und über die Stellung hinaus, die das Leben ihnen zugewiesen hatte.
    Ada liest ihn mit der Seite ihres Gesichts; der Flaum auf ihrer Wange sträubt sich und erspürt alles, was sie über den jungen Mann wissen muss, der dort am anderen Ende des Raumes steht. Es ist der Beginn eines Errötens, dieses Wissen, aber Ada errötet nicht. Sie blickt auf ihr Armband: ein schmales Kettchen aus Rotgold mit einem T an der Schließe wie eine Châteleine. Sie betastet diese kleine Besonderheit – etwas Männliches an ihrem Mädchenhandgelenk – und spürt, wie Nugents Ungläubigkeit auf ihr lastet. Dann hebt sie ganz leicht den Kopf und sagt: »Und?«
    Ziemlich gewagt.
    Womöglich verabscheut er sie jetzt, dabei ist Nugent mit seinen dreiundzwanzig Jahren zu jung, um der Empfindung, die ihn durchfährt, die sich im Nu verflüchtigt hat und nur eine Luftveränderung in ihrem Gefolge zurücklässt, einen Namen zu geben. Etwas Offenes. Ein Zephir. Was ist es nur?
    Verlangen.
    Um dreizehn Minuten nach sieben atmet auf Lamb Nugents jungen Lippen das Verlangen – scht! Er spürt dessen erschreckende Nähe. Das Bedürfnis, sich zu rühren, durchbrandet ihn, doch er rührt sich nicht. Er behauptet die Stellung, während quer durch den Raum Adas Reglosigkeit triumphiert. Falls er sehr geduldig ist, sieht sie ihn vielleicht an, jetzt. Falls er sehr demütig ist, nennt sie ihm vielleicht ihre Bedingungen.
    Vielleicht aber auch nicht. Nichts ist ausgesprochen worden. Niemand hat sich bewegt. Es ist möglich, dass Nugent sich alles nur eingebildet hat – oder aber ich. Vielleicht ist er mit dreiundzwanzig Jahren ein armseliges Würstchen gewesen, mit zerknautschter Tweedmütze und Adamsapfel. Vielleicht bemerkt ihn Ada von ihrer Seite des Raumes aus nicht einmal.
    Aber dies ist das Jahr 1925. Ein Mann. Eine Frau. Sie weiß mit Sicherheit, was jetzt auf sie zukommt. Sie weiß es, weil sie schön ist. Sie weiß es aufgrund all der Dinge, die bisher geschehen sind. Sie weiß es, weil sie meine Granny ist, und wenn sie mir früher die Hand auf die Wange gelegt hat, spürte ich die Nähe des Todes und war getröstet. Es gibt nichts Behutsameres als die Berührung einer alten Frau, nichts Liebevolleres und nichts Entsetzlicheres.
    Ada war eine zauberhafte Frau. Eine andere Beschreibung finde ich nicht für sie. Mit ihrem Schulterbau und der Art und Weise, wie sie mit ihrer vor der Hüfte baumelnden Einkaufstasche die Straße entlangeilte. Ihre Hände waren niemals leer, und nie sah man, was sie hielten – etwas, das gefaltet oder gewaschen oder verschoben oder gewischt werden musste. Auch essen sah man sie nie, denn immer hörte sie einem zu oder redete selbst; das Essen verschwand einfach, so, als würde es gar nicht von einer Öffnung in ihrem Gesicht verschluckt. Mit anderen Worten: Sie hatte vollendete Manieren, die ansteckend wirkten. Selbst schon mit acht Jahren war mir bewusst, dass sie Charme besaß.
    Wie aber konnte Nugent das wissen,
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