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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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Menschen von einem anderen, die wenigen sorgfältig ausgewählten Details darüber, wie Liam zu Tode gekommen ist.
    »Ich fürchte, er ist tot, Mammy.«
    »Oh«, sagt sie. Ich habe nichts anderes erwartet. Ich wusste genau, dass ihr dieser Laut entschlüpfen würde.
    »Wo?«, fragt sie.
    »In England, Mammy. Wo er gelebt hat. Man hat ihn in Brighton gefunden.«
    »Was willst du damit sagen?«, fragt sie. »Was willst du damit sagen, ›in Brighton‹?«
    »Brighton in England, Mammy. Eine Stadt in Südengland. In der Nähe von London.«
    Und dann schlägt sie mich.
    Ich glaube nicht, dass sie mich je zuvor geschlagen hat. Später versuche ich mich noch einmal zu entsinnen, aber eigentlich bin ich fest davon überzeugt, dass sie das Schlagen anderen Leuten überlassen hat. Midge natürlich, die immerzu mit dem Wischmopp unterwegs war und uns im Vorübergehen eins mit dem Lappen überzog, ins Gesicht, in den Nacken oder hinten auf die Beine, und jedes Mal fand ich, dass der Gestank des Dings schlimmer war als der brennende Schmerz. Mossie, dem Psychopathen. Und dem bedächtigen Ernest, der mit der flachen Hand zuschlug. Je weiter unten man in der Hackordnung stand, desto mehr büßten die Schläge an Autorität und an Wucht ein – auch bei mir, ich selbst war ja auch einmal diejenige, die austeilte, an Alice und die Zwillinge Ivor-und-Jem.
    Jetzt aber stützt meine Mutter eine Hand auf den Tisch, und mit der anderen holt sie aus und trifft mich an der Seite des Kopfes. Nicht sehr hart. Überhaupt nicht hart. Dann lässt sie ihren Arm zurückschwingen und greift nach der Theke, und dort erstarrt sie nun, zwischen Theke und Tisch, den Kopf tief zwischen die ausgestreckten Arme gesenkt. Eine Weile lang ist sie stumm, doch dann fließt ein entsetzlicher Laut aus ihr heraus. Ganz verhalten. Ein Laut, der sich aus ihrem Rücken zu lösen scheint. Sie hebt den Kopf und dreht sich zu mir um, sodass ich ihr Gesicht sehen kann; der Ausdruck, der sich jetzt darauf abzeichnet, zeugt von dem Wissen, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor.
    Sag’s bloß nicht Mammy. Das war das Mantra unserer Kindheitstage, oder wenigstens eines davon. Sag’s bloß nicht Mammy. Das kam besonders häufig von Midge, aber auch von allen anderen älteren Geschwistern. Wenn etwas zerbrochen oder verschüttet wurde, als Bea nicht nach Hause gekommen und Mossie auf den Dachboden gezogen war, wenn Liam Acid eingeworfen und Alice Sex gehabt hatte oder wenn Kitty eimerweise in ihre neue Schuluniform blutete, wenn es Anrufe gab wegen Verspätungen, Verkehrschaos, Problemen mit Bus- oder Taxigeld, und einmal – und das war eine wahre Katastrophe -, als Liam eine Nacht im Knast verbracht hatte. Keines dieser Geschehnisse wurde ihr preisgegeben, stattdessen: geflüsterte Beratungen in der Diele, Sag’s bloß nicht Mammy , denn »Mammy« würde – ja, was? Tot umfallen? »Mammy« würde sich Sorgen machen. Was ich ganz in Ordnung zu finden schien. Schließlich war sie ihr ureigenstes Werk, diese Familie. Wir alle waren – einer nach dem anderen und unter Schmerzen – aus ihr herausgepurzelt. Und mein Vater sagte es öfter als alle anderen, immer ruhig und ritterlich: »Das brauchst du deiner Mutter jetzt noch nicht zu sagen«, so als sei die Realität seines Bettes die einzige Realität, die zu ertragen man dieser Frau zumuten konnte.
    Nachdem meine Mutter sich herübergebeugt und mich geschlagen hat, zum ersten Mal, sie siebzig, ich neununddreißig Jahre alt, schwillt mein Gehirn an, zerspringt fast von der Ungerechtigkeit all dessen. Ich glaube, ich werde einmal an Ungerechtigkeit sterben; ich glaube, das wird auf meinem Totenschein stehen, Angefangen damit, dass diese Pflicht mir übertragen wurde – weil ich die Umsichtige bin, natürlich. Ich habe ein Auto, kann meine Telefonrechnungen immer zahlen. Ich habe Töchter, die sich nicht darum streiten müssen, wer am nächsten Morgen die Unterwäsche der jeweils anderen zur Schule anzieht. Also bin ich diejenige, die zu Mammy fahren, an der Tür läuten und sich an ihren Küchentisch setzen muss, in einem zweckdienlichen Abstand, um mich schlagen zu lassen. Es ist ja nicht so, als wäre mir das alles in den Schoß gefallen – Ehemann, Auto, Telefonrechnung, Töchter. Deshalb bin ich so wütend auf jeden Einzelnen meiner Brüder und Schwestern, eingeschlossen Stevie, der schon lange tot ist, und Midge, die erst seit Kurzem tot ist, und schäume vor Wut auf Liam, weil auch der nun tot ist, und zwar
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