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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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gerade jetzt, da ich ihn am meisten brauche. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes außer mir. Ich bin so zornig, dass ich die Küche aus einer zweiten, aus einer Vogelperspektive wahrnehme. Von oben blicke ich hinab: auf mich, den nassen Ärmel aufgerollt, den nackten Unterarm flach auf dem Tisch, und auf meine Mutter auf der anderen Seite des Tisches, die wie gekreuzigt dasteht und deren Kopf von dem kleinen weißen Dreieck ihres entblößten Nackens herabhängt.
    Dies ist der Ort, an dem Liam ist. Hier oben. Ich spüre seine Anwesenheit wie einen Schrei im Raum. Das ist es, was er sieht: meinen nackten Arm, unsere Mutter, die zwischen Tisch und Theke Flugzeug spielt. Tiefflieger.
    »Mammy.«
    Der Laut fließt noch immer aus ihr heraus. Ich hebe den Arm.
    »Mammy.«
    Sie hat keine Vorstellung davon, was alles für sie getan worden ist in den sechs Tagen seit dem ersten Anruf aus England. Das alles ist ihr erspart geblieben: Kitty, die durch ganz London gelaufen ist, und ich durch ganz Dublin, um zahnärztliche Befunde beizubringen, seine Körpergröße, seine Haarfarbe und die Tätowierung auf seiner rechten Schulter. Nichts von all dem ist ihr dann auch noch vorgelesen worden, so wie mir heute Morgen von der äußerst netten Polizistin, die plötzlich vor der Haustür stand. Denn ich bin diejenige, die ihn am meisten geliebt hat. Polizistinnen tun mir leid – immer haben sie es mit Verwandten, Prostituierten und Teetassen zu tun.
    Jetzt trieft meiner Mutter Speichel von der Unterlippe, in Tropfen und Fäden. Ihr Mund klappt auf. Sie versucht, ihn zu schließen, aber ihre Lippen weigern sich, und sie sagt: »Gah. Gah.«
    Ich muss zu ihr hinübergehen und sie berühren. Sie an den Schultern fassen, sanft aufrichten und wegführen. Ich werde ihre Arme wieder an ihren Körper pressen, während ich sie zum Tisch geleite und auf einen Stuhl drücke, und ich werde Zucker in ihren Tee tun, obwohl sie gar keinen Zucker nimmt. All dies werde ich tun aus Ehrerbietung vor einer Trauer, die biologisch, idiotisch, zeitlos ist.
    Genauso würde sie um Ivor weinen, weniger um Mossie, mehr um Ernest und untröstlich, wie wir alle, um den wunderbaren Jem. Sie würde weinen, ganz gleich, was für ein Sohn er ihr gewesen ist. Mir kommt der Gedanke, dass die Rollen vertauscht sind, denn ich bin diejenige, die etwas Unersetzliches verloren hat. Sie hat noch im Überfluss.
    Zwischen mir und Liam lagen elf Monate. Wir sind aus unserer Mutter herausgepurzelt, einander dicht auf den Fersen, einer nach dem anderen, es ging rasch wie ein Gangbang, rasch wie ein Seitensprung. Manchmal denke ich, dass wir uns da drinnen noch getroffen haben müssten, er ist nur früher aus ihr heraus, um draußen auf mich zu warten.
    »Ist alles in Ordnung, Mammy? Möchtest du eine Tasse Tee?«
    Sie beäugt mich, so winzig auf dem großen Stuhl. Ein gereizter Blick, ihr Kopf zuckt zur Seite. Und es kommt über mich wie ein Fluch. Wer bin ich, dass ich diesen Stoff zu berühren, zu betasten, auszurangieren wage, den Stoff der Mutterliebe?
    Ich bin Veronica Hegarty. Stehe in meiner Schuluniform an der Spüle, vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt, weine um einen Exfreund und werde getröstet von einer Frau, die sich um nichts in der Welt an meinen Namen zu erinnern vermag. Ich bin Veronica Hegarty, neununddreißig, und häufe löffelweise Zucker in eine Tasse Tee für die reizendste Frau in ganz Dublin, die gerade eine schreckliche Nachricht erhalten hat.
    »Ich gehe nur mal eben Mrs Cluny anrufen.«
    »Anrufen?«, sagt sie. »Du willst sie anrufen ?« Mrs Cluny wohnt gleich nebenan.
    »Ja, Mammy«, und plötzlich erinnert sie sich, dass ihr Sohn tot ist. Sie blickt mich prüfend an, um herauszufinden, ob es tatsächlich wahr ist, und ich nicke und komme mir unaufrichtig dabei vor. Kein Wunder, dass sie mir nicht glaubt. Ich kann es ja selbst kaum glauben.

3
    Die Saat für den Tod meines Bruders war vor vielen Jahren gesät worden. Der Mensch, der sie gesät hat, ist selbst längst tot – glaube ich zumindest. Um also Liams Geschichte zu erzählen, muss ich lange vor seiner Geburt ansetzen. Und tatsächlich, das ist die Erzählung, die ich niederschreiben möchte: Die Vergangenheit ist ein so romantischer Ort, mit ihren Kutschern, ihren Gassenkindern und seitlich geknöpften Schuhen. Wenn sie nur stillstünde, denke ich, und zur Ruhe käme. Wenn sie nur aufhören würde, in meinem Kopf herumzuschlittern.
    Also gut.
    Lambert Nugent sah meine Großmutter Ada
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