Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
Vom Netzwerk:
Merriman zum ersten Mal in einem Hotelfoyer im Jahre 1925. Dies ist der Augenblick, mit dem ich beginne. Es war sieben Uhr abends. Sie war neunzehn, er dreiundzwanzig.
    Sie betrat das Foyer, sah sich nicht um und setzte sich auf einen Stuhl mit ovaler Rückenlehne in der Nähe der Tür. Durch die heranstürmenden Neuankömmlinge hindurch, denen gerade Zimmer zugewiesen wurden, beobachtete Lamb Nugent, wie sie erst ihren linken Handschuh abstreifte und dann den rechten. Unter ihrem Ärmel zog sie ein schmales Armband hervor, und die Hand, in der sie die Handschuhe hielt, ruhte in ihrem Schoß.
    Natürlich war sie schön.
    Es ist schwer zu sagen, wie Lamb Nugent mit dreiundzwanzig ausgesehen hat. Er liegt nun schon so lange im Grab, dass es schwierig ist, sich ihn unschuldig oder verschwitzt vorzustellen, wenn er zu Staub zerfallen ist.
    Was sah sie in ihm?
    Man muss ihn wieder zusammensetzen – klick-klack -, seine Muskeln an den Knochen befestigen und mit Fett umhüllen, das Ganze in Haut einwickeln und mit einem marineblauen oder braunen Anzug versehen – etwas am Schnitt der Aufschläge ist vielleicht eine Spur zu elegant und der Geruch an seinen Händen eine Spur feiner als Karbolseife. Er verstand sich drauf, schon damals, auf den hartnäckigen Narzissmus des Durchschnittsmannes, und sämtliche Äußerungen seiner Selbstverliebtheit waren ebenso raffiniert wie exakt. Er brüstete sich nicht. Lambert Nugent beobachtete. Oder vielmehr, statt zu beobachten, ließ er sie in sich eindringen – die Welt mit all ihren Nuancen, wer wem was schuldig war.
    Das war es vermutlich, was er sah, als meine Großmutter durch die Tür hereinkam. Mit seinen Babyaugen. Zwei schwarze Pupillen, in die das Bild Ada Merrimans trat. Sie setzte sich, trug Blau, zumindest stelle ich es mir so vor. Ihr blaues Selbst ließ sich in den grauen Falten seines Hirns nieder und blieb für den Rest seines Lebens dort haften.
    Es war fünf nach sieben. Die Gespräche im Foyer drehten sich um den Regen, darum, wie man mit dem Kutscher verfahren sollte, und ob Erfrischungen benötigt wurden; danach wurde das Knäuel der Neuankömmlinge aufgelöst, wie Perlen auf einer Schnur wurden sie durch die Tür des vorderen Gesellschaftsraums gezogen, und die beiden Bediensteten blieben wartend zurück, sie auf ihrem einfachen Stuhl, er, den Ellbogen auf den hohen Tresen der Rezeption gestützt wie ein Mann, der an einer Bartheke lehnt.
    In dieser Haltung verharrten sie dreieinhalb Stunden lang.
    Sie gehörten den niederen Ständen an. Warten bereitete ihnen keine Schwierigkeiten.
    Zunächst tat Ada so, als habe sie ihn nicht bemerkt. Vielleicht war dies ein Akt der Höflichkeit, ich kann mir allerdings auch vorstellen, dass Lamb schon damals die Fährigkeit besaß, seine Präsenz zurückzunehmen, als existiere er nur eben so. Und im Jahre 1925 waren die Wutanfälle, unter denen er in seinem späteren Leben leiden sollte, nur das gewöhnliche Aufwallen von Leidenschaft und junger Hoffnung. Wenn Nugent in jenen frühen Tagen an irgendetwas litt, dann war dies Anständigkeit. Er war ein anständiger Mann. Ein Mann, der nicht sonderlich vertraut war mit Hotels. Nicht vertraut mit Frauen, die sich den Handschuh mit einem so präzisen Ruck ausziehen konnten. In seiner Lebensgeschichte gab es nichts, was ihn auf Ada Merriman vorbereitet hätte. Doch zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er dennoch für sie bereit war.
    Hinter dem hohen Empfangstresen hängte der kleine Concierge einen Schlüssel ans Brett und klapperte dann davon, um auf ein Glockenzeichen zu antworten. Er kehrte zum Tresen zurück, notierte sich etwas und ging wieder. Aus der rückwärtigen Küche trat ein Zimmermädchen heraus, in den Händen ein Tablett mit Tee. Sie stieg die Treppe hinauf, bog in einen der oberen Korridore ein und kam nicht wieder. Sie waren allein.
    Welch jähe Vertraulichkeit. Dublin wimmelte von stolzen Frauen ebenso wie von anständigen Männern, und mit diesem Umstand konnte man laut tönend umgehen oder, wie dieses Paar, in ungezwungenem Schweigen. Und in der Stille ihrer Aufmerksamkeit erkannte jeder der beiden die Stärke des anderen und die Tatsache, dass keiner von ihnen der Erste sein würde, der davonging.
    Es gibt so wenige Menschen, die zu lieben uns gegeben ist. Das will ich meinen Töchtern sagen: Jede Verliebtheit ist wichtig, auch mit neunzehn. Besonders mit neunzehn. Und wenn man mit neunzehn die Menschen, die man liebt, an einer Hand abzählen kann, so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher