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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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verzeihen, so ist es doch dies – die Art und Weise, wie er der Sache treu blieb -, was den Mann ausmacht, jedenfalls für mich.

4
    Vom Telefon in Mammys Diele aus rufe ich die Trauerberater in Brighton and Hove an und lasse mir die Nummer eines Bestattungsunternehmers geben, der netterweise die Daten meiner Kreditkarte aufnimmt, da ich sie gerade zur Hand habe. Natürlich gilt es, einen Sarg auszusuchen, und aus irgendeinem Grund weiß ich, dass ich gekalkte Eiche wählen werde – eine Entscheidung, die mir zusteht, weil ich diejenige bin, die ihn am meisten geliebt hat. Und was wird das alles kosten?, frage ich mich, als ich den Hörer auflege.
    Mrs Cluny von nebenan kommt herein, ohne ein Wort zu sagen. Sie rauscht durch die Diele in die Küche und schließt die Tür. Nach einer kurzen Weile höre ich die Stimme meiner Mutter, ganz leise.
    Ich bringe die Geduld nicht auf, noch einmal die alte Wählscheibe zu benutzen, nehme mein Handy und wandere durchs Haus, während ich alle nacheinander anrufe, in Clontarf und Phibsboro, in Tucson, Arizona, um ihnen zu sagen: »Schlechte Nachrichten. Liam. Ja. Doch, ich fürchte, ja.« Und: »Ich bin bei Mammy. Schockiert. Völlig schockiert.« Die Nachricht wird über Verbindungen weitergegeben werden, die zu zart und dünn sind, als dass man sie zurückverfolgen könnte. Jem wird Ivor anrufen, und Ivor wird Mossies Frau anrufen, und Ita wird versuchen, Father Ernest zu erreichen, irgendwo im Norden von Arequipa. Dann werden sie alle – oder ihre Frauen – wieder hier anrufen, um Zeiten und Gründe, blutrünstige Einzelheiten und Flüge zu bereden.
    Ich wandere durchs Dämmerlicht unserer Kinderzimmer und berühre nichts.
    Alle Betten sind bezogen und bereit. Die Mädchen schliefen oben und die Jungen im Erdgeschoss (wie man sieht, hatten wir ein System). Es ist ein Kaninchenbau. Die Etagenbetten der Zwillinge stehen in einem kleinen Raum links von der Eingangstür – dem Raum, in dem der kleine Stevie gestorben ist. Auf der anderen Seite dieses Raumes befindet sich eine Tür zum Garagenanbau, in dem drei Einzelbetten stehen. Dahinter wiederum der Durchgang zum Garten, wo zuerst Ernest auf einer Matratze auf dem Fußboden geschlafen hatte, dann, als Ernest auszog, Mossie und zuletzt Liam.
    Das Schrägdach des Durchgangs ist aus durchsichtigem, gewelltem Plexiglas. Die Matratze liegt noch da und stößt an die gelbe Gartentür mit dem Kieselglasfenster. Liams Marc-Bolan-Poster ist nicht mehr vorhanden, aber man kann noch die schmutzigen Klebestreifen sehen, die von der Hohlblockwand herabhängen.
    Hier habe ich meine allererste Zigarette geraucht.
    Ich setze mich auf die Matratze, die mit einer groben blauen Decke bezogen ist, und rufe den letzten, meinen kleinsten Bruder an.
    »Hallo, Jem. Nein, alles in Ordnung. Aber ich habe schlechte Nachrichten über Liam.« Und Jem, der Jüngste von uns, der Unkomplizierteste und Meistgeliebte, sagt: »Na, wenigstens ist es ausgestanden.«
    Ich versuche noch einmal, Kitty zu erreichen, und höre das Telefon in ihrer leeren Londoner Wohnung klingeln. Ich lege mich hin, sehe auf zu dem gewellten Plexiglasdach und frage mich, wie man all diese Schuppen und Anbauten rückgängig machen könnte, um das Haus wieder zu dem werden zu lassen, was es einmal war. Ob es möglich wäre, alles einzureißen und wieder von vorn zu beginnen?
     
    Als Bea kommt, öffne ich die Tür und fasse sie an beiden Unterarmen, und so schwingen wir im Kreis, bis sie an mir vorbei in die dunkle Diele tritt. Ich folge ihr ins gelbe Licht der Küche und sehe, dass meine Mutter in der Zeit, in der ich die Anrufe erledigt habe, um fünf, vielleicht zehn Jahre gealtert ist.
    »Guten Abend, Mammy. Möchtest du etwas zur Beruhigung? Sollen wir einen Arzt kommen lassen, damit er dir ein Schlafmittel verschreibt?«
    »Nein, nein. Nein, danke.«
    »Ich fliege rüber, um alles zu regeln«, sage ich.
    »Nach England?«, fragt sie. »Jetzt?«
    »Ich rufe an, in Ordnung?«
    Als ich sie küsse, ist ihre Wange schrecklich weich. Ich schaue hinüber zu Bea, die mir einen düsteren, tadelnden Blick zuwirft.
    Sag’s bloß nicht Mammy .
    Als hätte ich an allem Schuld.
    Mein Vater saß immer in der Küche und sah, die ungelesene Zeitung auf dem Schoß, bis elf Uhr fern. Nach den Nachrichten faltete er die Zeitung zusammen, stand von seinem Stuhl auf, schaltete den Fernseher aus (gleichgültig, wer sonst noch fernsah) und schickte sich an, zu Bett zu gehen. Die Milchflaschen wurden
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