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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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anständiger Mann: mit einer langsamen Bewegung der Hüften, schwer beladen mit dem Gewicht seines Erdenlebens, um die Menschen trauernd, die er liebte. Mutig.
    Es ist Fastenzeit. Für die Dauer des Fastens hat Nugent Speck, Würstchen und allen Arten von Innereien entsagt, ebenso starken alkoholischen Getränken. Sein Körper ist geläutert durch das Wirken seiner Seele – deshalb hat der Geruch, der unter seinem Hemd aufsteigt, etwas von Frühlingsluft an sich, ein Hauch von frühmorgendlicher Seife, der stille Mief eines Arbeitstages. Der Stoff seines Anzugs ist auf anständige Weise abgetragen, der Kragen seines Hemdes auf anständige Weise sauber, und vor ihm erstreckt sich sein Leben, das auf anständige Weise zu solidem mittlerem Alter anwachsen wird.
    Mit einer kleinen Unterbrechung: Das Glitzern seiner Babyaugen, mit denen er Ada Merriman im Foyer des Hotels Belvedere mustert, hat durchaus nichts Anständiges. Auch sie hat ihn angesehen. Wie sie so dastand – gewissermaßen nackt, die Hände vor dem Schoß gefaltet -, hat sie das Gesicht gehoben und ihm in die Augen geblickt.
    Das ist der Schock. Der Schock ist das uneingeschränkte Selbst der Ada Merriman. Ihre Pupillen weiten sich, um ihn in sich aufzunehmen, sie sind weit aufgerissen, und Nugent ist dankbar, dass die hölzerne Tresenwand ihn stützt.
    Dann lächeln sie. Ada lächelt. Als stünde ein Scherz im Raum, den sie mit ihm teilen möchte.
    Nugent sieht sie an und fragt sich, welchen Teil ihres Körpers sie so amüsant findet. Sind es ihre Brüste, ist es ihr Hals? Entweder bemerkt sie nicht, dass sie nackt ist (schließlich ist sie vollständig bekleidet), oder es ist ihr gleichgültig. Vielleicht lacht sie über den kleinen Mann, der die Lampen anzündet. Oder über ihn – der wie ein Trottel dasteht, mit einer Beule in der Hose. Und Nugents Augen quellen über vor Wut über diese Ungerechtigkeit und die Macht verweigerter Liebe.
    Aber selbstverständlich hat sie ihm – wie der kleine Lampenanzünder ihm bestätigen könnte – noch gar nichts verweigert, hat ihn nicht zurückgewiesen.
    Das Gaslicht faucht und gurgelt leise, als der Schemel hochgehoben wird und der Mann sich zurückzieht, den Liebenden leicht zugeneigt in zynischer Verbeugung, als könne er alles vor sich sehen: die Paarung (die schmatzenden Geräusche), das Geld, die Lügen, die sie einander bereits aufzubinden begonnen haben. Ach, wenn es ein Lied wäre, man könnte es singen. Wenn es ein Lied wäre, könnte man mit Löffeln den Takt dazu schlagen. Besonders in Dublin im Jahre 1925.
    Das alles ist natürlich meine ganz eigene romantische Vorstellung. Jeder hatte eine schöne Großmutter – es hat etwas mit Sepia und Orangenblüten im Haar zu tun und mit festem Blick in diesen altmodischen Augen. Wir haben verlernt, mutig zu sein, so wie eine Braut zu jener Zeit mutig war. Vor mir liegt Adas Hochzeitsfoto: Sie trägt den kurzen Schleier der Zwanzigerjahre, und die Seide ihres Kleides lässt am Saum die zarten, handgenähten Stiche in einer Linie von Einbuchtungen erkennen. Sie war rein, und sie war entflammt. Ada Merriman, meine sittsame und feurige Großmutter, war das, worüber im Jahre 1925 Dichter schrieben.
    Sie hat meine Füße. Oder ich habe ihre: lang, mit schief stehenden Zehen. Ebenso die großknochigen Fußgelenke und die endlos langen, flachen Schienbeine, derentwegen ich mich früher in der Schule immer so schlaksig gefühlt hatte, bevor ich lernte, mich mit ihnen zu bewegen. Ich habe einen teuren Körper, merkte ich irgendwann im Jahre 1979. Das hat nichts mit Sex zu tun. Anwälte wollen Kinder mit mir zeugen, und Architekten wollen, dass ich auf ihren neuen Aluminiumstühlen sitze. Vorn nicht zu viel, einfach nur groß und schlank. Insofern kleide ich mich gut, vermute ich – denn tatsächlich würde mich nichts dazu bringen, mir einen Rock anzuziehen, der auf halber Wadenlänge endet und meine Transvestitenknöchel und meine Knubbelzehen freigibt.
    In Satinschuhen haftet Adas Füßen etwas Mitleiderregendes an. Sie ist verheiratet, glücklich. Wenigstens bilde ich mir das ein, als ich ihr Foto wieder in den Karton lege, der alles enthält, was von ihr noch übrig ist.
    Sie heiratete nicht Nugent. Sie werden es mit Erleichterung aufnehmen. Sie heiratete seinen Freund Charlie Spillane. Und nicht nur, weil der ein Auto besaß.
    Aber Lamb Nugent hat sie nie verlassen. Meine Großmutter war das größte Werk seiner Einbildungskraft. Mag ich ihm auch nicht
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