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Das erste der sieben Siegel

Titel: Das erste der sieben Siegel
Autoren: Case John F.
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Und eine weitere Wahrheit war, dass er sehr müde war, und wenn er müde war, fehlte ihm die Energie, ›den Garten seines Verstandes zu jäten‹.
    Diese Metapher hatte Kang in der Armee gelernt während seines sechsjährigen Dienstes als Sanitätsoffizier einer Aufklärungseinheit in der entmilitarisierten Zone. Manche Gedanken waren Blumen; andere waren Unkraut. Wieder andere waren Vipern. Alles richtig zu erkennen erforderte ständige Wachsamkeit.
    Aber ›ständige Wachsamkeit‹ verlangte mehr Energie, als Kang erübrigen konnte. Mit den Jahren hatte er zu viel verloren – sein Bein durch eine Landmine, seine Frau durch eine Krankheit. In den letzten Wochen hatte er kaum mehr als wildes Gras gegessen, und jetzt – jetzt war sein Verstand weiß Gott kein Garten, sondern eine Trümmerlandschaft. Kang kümmerte es einfach nicht mehr. Was konnte ihm die Welt denn schon noch antun?
    Plötzlich knisterte ein elektrisches Megaphon und gellte über den Dorfplatz. Kang versuchte angestrengt mitzubekommen, was gesagt wurde, doch als die Worte den Hang hinauftrieben, wurden sie zu leise und unverständlich. Er konnte jedoch sehen, was sie bewirkten: Die Menschen wichen von dem Jeep zurück und verschwanden einer nach dem anderen in ihren Häusern. Bald darauf wirkte das Dorf – eine Ansammlung von baufälligen Holzhäusern, umgeben von Brachfeldern und einer verlassenen Fabrik – unheimlich leer. Erst jetzt verließ der Jeep den Marktplatz und fuhr, eine weiße Abgaswolke hinter sich herziehend, nach Norden zu der zweiten Straßensperre.
    Erst eine Quarantäne, dachte Kang, jetzt eine Ausgangssperre. Aber am helllichten Tag? Wieso? Und was war mit den Ärzten? Wo waren sie? Auf Kangs Gesicht, das so lange teilnahmslos gewesen war, zeigten sich tiefe Stirnrunzeln. Was er da sah, ergab keinen Sinn, und sein Instinkt riet ihm, auf der Hut zu sein. Obwohl nicht damit zu rechnen war, dass er von so weit unten entdeckt werden würde, zog er den roten Schal aus, den seine Frau ihm aus der Wolle eines alten Pullovers gestrickt hatte. Er stopfte den Schal in seine Jacke, setzte sich auf den Baum, den er gefällt hatte, brach einen Zweig ab und fing an, darauf zu kauen, während er die Straße beobachtete.
    Im Verlauf der nächsten Stunde geschah nicht viel. Bis auf die Soldaten und die Barrikaden blieb die Straße nach Pjöngjang leer. Zu leer. Sie war nie übermäßig belebt, doch jetzt war sie wie ausgestorben. Kein einziges Auto, kein Lkw oder Fußgänger kam an der einen oder anderen Straßensperre an. Was nur bedeuten konnte, dass es noch andere Sperren geben musste, weiter vom Dorf entfernt, und dass die beiden, die er sah, einem ganz anderen Zweck dienten, als er angenommen hatte. Sie waren nicht dazu da, den Verkehr vom Dorf fernzuhalten. Sie waren dazu da, die Leute im Dorf zu halten.
    Kangs Herz flatterte ihm in der Brust.
    Und dann, ganz plötzlich, tat sich was. Wie auf ein Kommando rannten die Soldaten an beiden Blockaden zum Straßenrand und kauerten sich in die Gräben. Kang wusste nicht, was er davon halten sollte – selbst als er das Flugzeug sah, das über die Berge kam.
    Wie jedes andere Flugzeug, das er je gesehen hatte, war es eine Militärmaschine. Die Aluminiumaußenhaut hatte eine matt-braune Farbe, die das Sonnenlicht beinahe zu verschlucken schien. Kang beobachtete, wie das Flugzeug sich Tasi-ko näherte, die Motoren dröhnend in der eisigen Luft. Plötzlich löste sich ein Stück vom Rumpf und fiel taumelnd auf das Dorf zu. Kang wollte nicht glauben, was er da sah. Das Flugzeug schwenkte nach Osten ab, richtete sich aus und beschleunigte auf den Horizont zu, während Kang unwillkürlich aufsprang.
    Er öffnete den Mund, um zu rufen oder zu schreien – Richtung Flugzeug, Richtung Dorf, Richtung Soldaten –, aber es war zu spät. Die Welt pulsierte. Licht blitzte auf, und dann folgte ein tiefes Wrrummmm, das die Luft aus dem Himmel sog. Einen Wimpernschlag lang sah Kang, wie sich von Tasi-ko aus eine sengende Lichtwelle in alle Richtungen wälzte. Dann schlug eine Hitzeflut gegen den Bergkamm und rollte über ihn hinweg. Er schnappte nach Luft, noch einmal, dann begriff er voller Entsetzen, dass in der Luft keine Luft war – nur Hitze und der Geruch von brennendem Haar.
    Die bringen alle um, dachte er. In seiner Panik rutschte er auf dem Eis aus und schlug hart, flach auf den Rücken. Ein Lichtschauer ergoss sich hinter seinen Augen, und irgendetwas knackte tief in seinem Kopf. Kangs
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