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Das erste der sieben Siegel

Titel: Das erste der sieben Siegel
Autoren: Case John F.
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Gelände, und er suchte sich vorsichtig einen Weg über das Schneefeld, damit er nicht in eine Spalte fiel. Schließlich erklomm er einen Grat und erreichte die Stelle, zu der er wollte, einen Hain aus kräftigen Kiefern, strotzend vor grünen Nadeln über dem Schnee.
    Wie immer, wenn er hierherkam, blitzte das Gesicht seiner Frau vor ihm auf, und ihm kamen die Tränen. Dann torkelte er zu dem Wald, suchte sich einen jungen Baum, brach einen Zweig ab und saugte an dem Harz. Währenddessen hielt er nach einem geeigneten Baum Ausschau, den er mit einer Säge fällen und ins Dorf schleifen konnte.
    Und in diesem Moment hörte er es, hörte es zum ersten Mal in der Stille der Kiefern: ein einzelnes, deutliches Geräusch, das auf dem Wind ritt, ein mechanisches Jaulen, das er augenblicklich erkannte.
    Es war das Geräusch der Erlösung, der Klang der Rettung.
    Kang humpelte zurück zu dem Grat und spähte den Hang hinab auf die Straße, wo ein Lkw-Konvoi in Richtung Tasi-ko rollte, winzig klein in der Ferne.
    Es waren insgesamt sechs Truppentransporter, ein Jeep und zwei Sattelschlepper, auf deren Anhänger orangefarbene Bulldozer vertäut waren. Von seiner Position aus konnte Kang deutlich sehen, welchen Weg der Konvoi genommen hatte, während er sich durch das Tal schlängelte. Die Reifen mit den Schneeketten fraßen sich knirschend in den Schnee und das Eis und pflügten die Erde auf, sodass es fast den Anschein hatte, als hätten die Wagen eine Linie über die zerklüfteten Konturen des Landes gezogen.
    Zum ersten Mal seit Wochen hoben sich Kangs Mundwinkel, und er lächelte. Vor Erleichterung grunzend, setzte er sich schwer in den Schnee, und mit einem kleinen Schraubenzieher, den er immer dabei hatte, zog er die Schrauben an seinem künstlichen Bein nach. Jetzt würde alles besser werden.
    Schlimmer hätte es aber auch nicht mehr werden können. Es war der grässlichste Winter seit Menschengedenken, die lähmende Kälte hatte den Hunger in eine Hungersnot und die Hungersnot in eine Seuche verwandelt. In diesem Augenblick lagen einunddreißig Menschen – ein Viertel des Dorfes – auf dem Boden in der Fabrik, ihre Leichname wie Klafterholz gestapelt. (In dem Gebäude, das die Form eines Sarges hatte und aus Zement gebaut war, waren über zwanzig Jahre lang Besen – gute Besen – hergestellt worden. Jetzt, so dachte Kang, war es so tot wie seine Bewohner. Ohne Brennstoff waren die Drehmaschinen verstummt, während die Luft still und kalt wurde.)
    Das von außen schon abschreckende Gebäude war innen der blanke Horror – eine provisorische Leichenhalle, gepflastert mit den Kadavern von Männern, Frauen und Kindern, deren mit Pusteln bedeckte Gliedmaßen in den Tagen vor Eintritt des Todes erschreckend blau angelaufen waren. Als einziger Sanitäter in Tasi-ko war es Kangs Aufgabe gewesen, die Leichen in die Fabrik zu tragen, wo sie auf ihre Beerdigung im Frühjahr warteten.
    Bevor er eben die Lkws gesehen hatte, die sich auf das Dorf zu schlängelten, hatte Kang Zweifel gehegt, ob im Frühjahr überhaupt noch jemand da sein würde, um die Toten zu begraben. Und wenn ja, dann wäre er wohl kaum dieser Jemand gewesen, und falls doch, dann hätte er wahrscheinlich nicht mehr die Kraft gehabt, mit Spitzhacke und Schaufel zu arbeiten.
    Jetzt fühlte er sich beschämt, beschämt wegen seiner Verbitterung. Irgendwann, vielleicht als seine Frau starb, hatte er sich dem Pessimismus hingegeben. Er war plötzlich überzeugt gewesen, dass die Außenwelt von dem Leiden in Tasi-ko entweder nichts wusste oder nichts wissen wollte, weil das Dorf abgelegen und unbedeutend war. Das waren subversive Gedanken, wie Kang sehr wohl wusste. Falls er sie jemandem offenbart hätte, hätte das die Widerstandskraft sämtlicher Einwohner schwächen können. Und die Gedanken waren nicht nur subversiv gewesen, sondern auch falsch. Das Leben eines Bauern in Tasi-ko war zweifellos genauso viel wert wie das eines Ingenieurs in Pjöngjang. Der Beweis war da, dort unten auf der Straße. Es war nur eine Frage der Zeit und der Verteilung der knappen Mittel gewesen.
    Das Eintreffen der Armee war die Widerlegung seiner negativen Gedanken. Die Lkws brachten ganz bestimmt Nahrungsmittel und Medizin – und Ärzte, richtige Ärzte, keine Sanitäter wie ihn. Das waren Leute, die auf der Universität in Pjöngjang gewesen waren. Die würden wissen, was zu tun war.
    Er dagegen hatte nichts tun können. Er musste mitansehen, wie die Dorfbevölkerung in
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