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Das erste der sieben Siegel

Titel: Das erste der sieben Siegel
Autoren: Case John F.
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nicht ganz einem Monat von einer Krankheit infiziert worden war, deren Symptome so heftig und seltsam waren, dass das Institut für Infektionskrankheiten in der Hauptstadt, sobald es davon erfuhr, einen Arzt nach Tasi-ko geschickt hatte.
    Der Arzt war sehr klein und sehr alt gewesen – ein kompakter kleiner Gnom mit großen, gelben Schneidezähnen. Er rauchte ununterbrochen importierte Zigaretten, und wenn er sprach, brach es förmlich aus ihm heraus, woraufhin er wieder lange schwieg. Kang hatte gewusst, dass einer, der soviel raucht, ein wichtiger Mann sein musste, aber er hatte ihn trotzdem nicht ausstehen können.
    Am Ende untersuchte der Arzt ein Dutzend Patienten, von denen vier inzwischen gestorben waren. Er notierte die Symptome und ließ sich von Kang den Verlauf der Krankheit schildern. Er nahm Blutproben von vier Dorfbewohnern und ließ zwei der Toten in Laken einwickeln und zur Autopsie in die Hauptstadt bringen.
    Als der Arzt wieder abfuhr, fragte Kang ihn, was er denn nun während seiner Abwesenheit machen sollte, aber der alte Mann gab ihm keine Antwort. Er zündete sich wieder eine Zigarette an, lehnte sich aus dem Fenster seines Wagens und zeigte auf das Gebäude, wo die Toten aufgebahrt wurden. »Das war die spanische Dame«, sagte er. »Das alles war die spanische Dame!«
    Zwar stand es Kang nicht zu, einem erfahrenen Arzt aus Pjöngjang zu widersprechen, aber er konnte nicht anders. Als der Wagen anfuhr, lief er neben ihm her. »Aber Genosse Doktor – das stimmt nicht! Wir hatten keine Touristen hier. Keine Ausländer –« Plötzlich beschleunigte der Wagen, und Kang rief hinterher: »Was kann ich tun?«
    Der alte Mann warf ihm einen letzten Blick zu und schüttelte den Kopf. Kang blieb zurück auf der Straße und dachte, der Alte musste verrückt sein.
    Aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Der alte Mann war wieder da. Er brachte Medizin – und Bulldozer, um die Toten zu begraben.
    Kang wusste, dass er eigentlich den Hang hinunterlaufen müsste, um den Soldaten zu helfen. Aber wegen der Kälte zögerte er. Ganz gleich, was für Medikamente und Nahrungsmittel die Armee auch brachte, Feuerholz war so gut wie nicht zu kriegen, und es wäre reine Verschwendung, wenn er nach der mühsamen Kletterei bei dieser Kälte mit leeren Händen zurückkäme.
    Er ging die hundert Meter zurück zu dem Wäldchen, entschied sich für einen kleinen Baum, kniete sich in den Schnee und fing an, wie wild mit seiner Klappsäge den Stamm durchzusägen. Das Harz war zähflüssig und verklebte die Zähne der Säge, doch schließlich knickte der Baum um, und Kang rappelte sich hastig auf. Er band das Seil um die unteren Äste der Kiefer, wandte sich um und eilte zurück zu dem Bergkamm, den Baum hinter sich herschleifend.
    Als er den Grat erreichte, blieb er stehen, um zu verschnaufen, und was er dann sah, verwirrte ihn. Etwa einen Kilometer südlich des Dorfes hielt die Hälfte des Konvois – drei Lkws und ein Sattelschlepper – mitten auf der Straße an und wartete. Die anderen Lkws fuhren weiter und rumpelten ins Dorf und dann … durch das Dorf hindurch.
    Bis auf den Jeep. Der Jeep fuhr auf den kleinen Platz, der in besseren Zeiten als Marktplatz für die Bauern aus der Gegend gedient hatte. Mit laufendem Motor stand er in der Kälte und zog die Dorfbewohner an wie ein Magnet Eisensplitter, doch Kang wusste, was die eigentliche Anziehung ausmachte: die Hoffnung auf Medizin, Nahrung und Nachrichten.
    Kang wollte sich wieder in Bewegung setzen, doch dann zögerte er. Der Konvoi südlich vom Dorf hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Die Lkws standen mitten auf der Straße, mit abgestelltem Motor, Soldaten lungerten herum, rauchten und hielten ihre Kalaschnikows bereit.
    Und dort im Norden wiederholte sich die Szene. Die zweite Hälfte des Konvois blieb etwa einen Kilometer hinter Tasi-ko stehen. Soldaten sprangen hinten von den Lkws, standen herum und warteten.
    Es war ein beunruhigender Anblick, selbst aus so großer Ferne auf dem Berg. Das Dorf wurde bestimmt unter Quarantäne gestellt. Und obwohl es Kang störte, dass Tasi-ko so isoliert wurde, musste er einsehen, dass es klug war. Was immer das für eine Seuche war, sie musste eingedämmt werden. Nach dem Verrat durch China, nach den verheerenden Überschwemmungen und einer Hungersnot würde sein Land wohl kaum eine weitere Katastrophe überstehen.
    Wieder hatte er gefährliche, aufrührerische Gedanken. Aber was er dachte, war die Wahrheit.
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