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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen
Autoren: dtv
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war es doch möglich, dass Katharina nur zeitweise in ihren Erinnerungen versank? Dass sie in klaren Momenten vielleicht doch in der Lage war, Briefe zu schreiben?
    |30| »Die Luftwaffe hat uns eine Unterdruckkammer der Bauart Ruff zur Verfügung gestellt«, sagte Katharina beinahe sentimental. »Sie ist in einem Lkw-Anhänger eingebaut. Der Druck lässt sich so weit senken, dass er den Bedingungen in mehr als zwanzig Kilometern Höhe entspricht.«
    Rolfs Aufmerksamkeit wurde zwangsläufig auf Katharinas Worte gelenkt. Sie blickte ihm unverwandt in die Augen.
    »Ich dürfte darüber nicht sprechen, aber ich muss. Ich habe so selten die Gelegenheit, Bekannte zu treffen . . . Die erste Karte war die schwierigste. Ein Zigeuner mit dunklen Augenbrauen, ein sanfter, ruhiger junger Mann. Mit Doktor Ruff sah ich durch das kleine Beobachtungsfenster zu, wie er in der Kammer stand, sehr ängstlich. Laut Ruff handelte es sich bei dem Mann um eine freiwillige Versuchsperson. Der Druck wurde gesenkt. Ich schrieb alle Reaktionen auf.«
    Katharina sprach ruhig, aber ihre Mundwinkel hatten angefangen zu zucken. »Als sich das Vakuum verdichtete, schien der Mann verrückt zu werden. Er riss sich vor Schmerzen die Haare aus und zerkratzte sich den Kopf und das Gesicht . . . er schlug mit beiden Händen gegen die Wände und schließlich auch mit dem Kopf, weil der Druck auf die Trommelfelle so stark war . . .«
    Rolf holte tief Luft. Er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, laut geschrien, Katharina geschlagen, die Flucht ergriffen. – Die Flucht ergriffen . . . wieder einmal. Augen schließen und Ohren zuhalten, das hatte er immer schon gekonnt.
    Dann wurde Katharinas Stimme wieder ganz sachlich. Sie referierte nur noch. »Ich blickte auf den Druckmesser und schrieb auf, in welcher Höhe es zum Platzen der Trommelfelle, zum Verlust des Bewusstseins kommt. Wann der Tod eintritt. Am Ende lässt das Vakuum die Lunge zusammenfallen . . .«
    Kummer und Erschütterung ergriffen Besitz von Katharinas Gesicht. »Und jetzt habe ich alle Zahlen vergessen«, flüsterte sie. »Die Zahlen sind Gold wert, und ich habe sie vergessen. Aber Doktor Ruff hat sie noch . . . Er hat sie Strughold übergeben, alles ist da, die Karten und die Tabellen, nicht wahr?«
    |31| Rolf hätte Katharina am liebsten mit der Hand den Mund verschlossen und sie geschüttelt. Warum konnte diese Frau nicht still sein? Mit Mühe brachte er ein Nicken zustande. »Sicher. Alles ist bei Strughold. Ich habe die Tabellen selbst gesehen. Niemand verlangt, dass du die Werte auswendig weißt.«
    »Ich könnte nicht einmal mehr Zahlen aufschreiben. Meine Finger gehorchen mir nicht, sie sind steif.« Katharina lachte nervös auf und blickte auf ihre Hände wie auf fremde Gegenstände. »Ich verstehe das nicht, noch im Zug von München hierher habe ich Mutter einen Brief geschrieben . . .«
    »Sagt dir der Name Hoffmann etwas? Dieter Hoffmann?«
    Katharina schüttelte den Kopf.
    »Warte hier«, sagte Rolf. »Ich muss kurz mit jemandem sprechen.«
    Rolf wollte aufstehen, aber Katharina bedeutete ihm mit der Hand, sitzen zu bleiben.
    »Geh nicht. Ich will reden . . . Ich weiß nicht, ob ich als Wissenschaftlerin in Dachau mein Bestes geben konnte. Ich wollte das Vertrauen, das Doktor Strughold in mich setzte, nicht enttäuschen, aber ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist.«
    »Es ist dir gelungen, Katharina.« Rolf ergriff ihre Hand und streichelte sie zärtlich. »Es ist dir außerordentlich gut gelungen. Weißt du wirklich nicht mehr, was nach jenen Zeiten geschehen ist? Ich muss dir etwas gestehen . . . Ich will diese Dinge nicht mit ins Grab nehmen. Hör zu. Es gibt da eine Kassette, auf der ich alles erzähle. Absolut alles. Obwohl ich dir versprochen habe . . .«
    Es sah aus, als wäre Katharina aufgeschreckt, oder als hätte sich ihr Blick zumindest vorübergehend geschärft. »Nach den Versuchen mit der Unterdruckkammer machten einige von uns mit Vibrationsexperimenten weiter. Ich habe mich Kälteversuchen zugewandt.«
    »Katharina«, unterbrach Rolf sie und drückte ihre Hand. »Reden wir nicht mehr über diese . . .«
    »Die Versuchsperson, ein junger Kommunist, wurde in einem Fliegeroverall in eiskaltes Wasser gesteckt«, fuhr Katharina unbeirrt |32| fort. »An die Werte erinnere ich mich noch«, sagte sie erleichtert. »Nach fünfundfünfzig Minuten verlor der Mann das Bewusstsein. Seine Körpertemperatur, rektal gemessen, betrug 32,2   Grad. Der Puls wurde
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