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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen
Autoren: dtv
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Erinnerungsbilder mindestens ebenso scharf wie das, was seine Augen vor ihm wahrnahmen. An der Ecke Garystraße war statt des Restaurants jetzt eine Feinkosthandlung. Einen Moment lang bildete Rolf sich ein, Katharina und Ingrid an der Tür des Hauses zu sehen, im lebhaften Gespräch . . .
    Aus der Brusttasche seines Hemdes drang der flötende Klingelton seines Handys. Rolf zog es heraus und drückte mit steifen Fingern die Taste mit dem grünen Hörerr.
    »Was gibt’s?«, sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, einen freundlicheren Ton anzuschlagen.
    »Ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht«
, antwortete Erik.
    |10| »Gut. Ich rufe dich an, wenn Grund dazu besteht.«
    Rolf wollte das Handy wieder einstecken, aber er verfehlte die Brusttasche, und es fiel auf die Straße. Missmutig bückte er sich, um es aufzuheben. Seine Bewegungen waren schwerfällig und langsam, der Rücken schmerzte.
    Sogleich bereute er es, Erik gegenüber so schroff gewesen zu sein, schließlich machte sich der Junge nur Sorgen. Rolf fand seinen körperlichen Zustand ja auch keineswegs perfekt, aber er war nicht der Meinung, dass man ihm ständig nachspionieren musste. Früherr, als Erik noch in den Windeln lag, war Rolf oft mehr als ein Drittel des Jahres auf Reisen gewesen, und noch im letzten Jahr hatte er mehrere Fernreisen gemacht. Im Vergleich dazu lag Berlin quasi vor der Haustür.
    Rolf untersuchte das Telefon genau. Es schien nicht eine Schramme abbekommen zu haben. In der Materialtechnik hatte man tatsächlich große Fortschritte gemacht. Nicht auszudenken, was für eine Erleichterung es gewesen wäre, wenn ihm seinerzeit schon Verbundstoffe zur Verfügung gestanden hätten.
    Langsam ging er bis zur Harnackstraße weiter. Hier war Katharina immer in den Bus gesprungen und nach Hause gefahren. Vor seinem inneren Auge sah Rolf ihre funkelnden braunen Augen, ihr langes dunkles Haar, die Lippen, die sich zu einem Lächeln bogen, ihr kleines Muttermal im Mundwinkel.
    Ihr wärt ein schönes Paar, hatten die Leute gesagt. Aber Hans war mutiger gewesen. Später dann . . . Doch daran wollte Rolf sich auf gar keinen Fall erinnern.
    In der Garystraße war ein modernes, helles Gebäude entstanden, mit der Aufschrift FREIE UNIVERSITÄT BERLIN, HENRY-FORD-BAU.   In der Boltzmannstraße war jedoch alles wie früherr. Alte Einfamilienhäuser inmitten von Gärten – und schließlich seine Schule.
    Bewegt betrachtete Rolf das braune, dreistöckige Gebäude mit dem vertrauten Zwiebelturm. Durch die Tür unter dem Turm waren damals so viele junge Menschen gegangen, voller Energie und jugendlichem Tatendrang, das ganze Leben noch vor sich.
    |11| Er hatte das Gebäude brandneu in Erinnerung – inzwischen bröckelte der Putz von den Wänden. An der Tür stand »Max-Planck-Institut«. Auf der Rückseite ragte noch immer der sogenannte »Turm der Blitze« auf, in dem der damals hypermoderne, zum Teilchenbeschleuniger ausgebaute Hochspannungsgenerator für kernphysikalische Elemente untergebracht war.
    Rundum war es still. Rolf machte kehrt und tastete im Gehen nervös nach dem Zettel mit der Adresse in seiner Tasche. Er spürte, wie die Anspannung in seinem Magen brannte. Katharina zu begegnen hieß, der Vergangenheit ins Gesicht zu sehen – einer schmerzlichen Vergangenheit. Aber er war fest entschlossen, noch ein letztes Mal den Versuch zu wagen, alte Wunden zu heilen, tiefe, noch immer klaffende Wunden.
    Wie Katharina wohl aussah? Und wie er wohl in ihren Augen aussehen würde . . .

|12| 2
    Morgendunst schwebte über dem unbewegten Meeresspiegel um die Insel Pellinki an der finnischen Südküste, unweit von Porvoo. Ein gleichmäßig gebräunter Mann in kurzen Jeans stand mit dem Messer in der Hand neben einem Felsbrocken, dessen Oberseite flach war wie ein Tisch. Die Klinge des Messers war blutverschmiert, ebenso der Zeigefinger des Mannes, der auf den Bauch des aufgeschlitzten Barsches deutete.
    »Und was ist das?«, fragte Erik Narva seine neben ihm hockende Tochter.
    »Der Magen«, antwortete Olivia.
    »Nein, der Magen ist hier. Das sind die Kiemen. Der Fisch braucht Kiemen, um zu atmen.«
    »Unter Wasser gibt es doch gar keine Luft«, sagte Emil, der neben seiner Schwester kauerte. Wenn er in Finnland war, sprach er ein korrektes Finnisch mit etwas stärkerem Akzent als seine Schwester. »Wie kann der Fisch denn da atmen?«
    »Das Blut transportiert Sauerstofff, genau wie beim Menschen.«
    Erik wischte die Messerklinge am Gras ab, steckte
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