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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
Autoren: Megan Abbott
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einladenden.
    So war es bei ihnen zu Hause, und man konnte so viel Spaß haben. Wäre es nicht toll, dachte ich – war das wirklich erst vor fünf Tagen? –, wenn ich mich so mit Mr. Verver über Jungs unterhalten könnte? Mit Evie stundenlang UNO spielen und Dusty dabei zusehen, wie sie ihre duftigen Kleider anprobiert, und bis zum Morgengrauen mit Mr. Verver Musik hören?
    Es ist eine lange Nacht, und meine Mutter geht auf dem Flur auf und ab, kontrolliert dreimal die Fensterläden, und die Haustür auch. Sie scheint die ganze Nacht herumzulaufen, gegen Stühle zu stoßen, den Fernseher an- und wieder auszuschalten. Und ich versuche zu schlafen, ich versuche, die Gedanken wegzuschlafen, die sich wie dunkle Flecken in meinem Kopf ausbreiten.
    Aber die Gedanken kommen trotzdem, und die Gedanken fühlen sich an, als ob sie für sehr schlechte Träume sorgen werden.
    Am nächsten Tag begleitet meine Mutter mich zu den Ververs. Im Fernsehen muss man immer vierundzwanzig Stunden abwarten. Erst nach vierundzwanzig Stunden hat es was zu bedeuten. Es ist erst einen halben Tag her. Das sage ich meiner Mutter, die meine Hand während der sieben Schritte zwischen unseren Häusern fest umklammert hält.
    Sie bleibt stehen und sieht mich erschöpft an. »Bei Kindern nicht«, sagt sie, »bei Kindern muss man nicht abwarten.«
    »Aha«, sage ich, und sie sieht aus, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie tut es nicht, zwingt sich dazu, es nicht zu tun. Aber dann schafft sie es doch nicht.
    »Bei Kindern kommt es auf jede Minute an. Da kann in einer halben Stunde alles vorbei sein. Du machst dir keine Vorstellung.«
    Ich spüre ein hartes Stechen in der Brust. Das ist das Schlimmste, was ich je gehört habe. Was meint sie denn damit. Was soll das heißen?
    Sie ist so angespannt, dass sie gar nicht merkt, wie ich zusammenzucke, und bevor ich etwas erwidern kann, hat sie mich durch die Seitentür der Ververs gezogen.
    Im Wohnzimmer stehen zwei Detectives, sie bitten meine Mutter zu warten und bringen mich nach oben. Ich habe immer noch Mr. Ververs Gesicht vor Augen, als er uns die Tür aufgemacht hat, voller Emotionen, sein ganzer Körper irgendwie in Bewegung, er kratzte sich an den Oberarmen und wippte auf den Füßen.
    Er gibt sich viel Mühe, finde ich. Er gibt sich Mühe, und Dusty kocht Kaffee, eingehüllt in ein übergroßes Sweatshirt, bei dessen Anblick ich schon anfange zu schwitzen. Sie versucht, sich zusammenzureißen, und verschüttet immer wieder Kaffeepulver, und als sie sich hinkniet, sehe ich eine große Träne, die ihr die Wange hinunterläuft, aber sie wischt sie mit ihrem ballonartigen Ärmel schnell weg, und als sie wieder aufsteht und mich ansieht, hat sie wieder trockene Augen und wirkt gefasst.
    Oben in Evies Zimmer, mit den beiden Männern in Schlips und Kragen, fühlt sich mein Kopf heiß an, und alles in mir ist aufgewühlt, als ob meine Nerven zucken. Es ist einfach alles zu viel, und ich stehe hier und soll mich erinnern, soll erzählen.
    Ich atme ein und aus, ganz oft, ganz tief. Als Erstes fragen sie mich, ob irgendetwas in ihrem Zimmer anders aussieht, tut es aber nicht. Ich soll mich genau umsehen, aber es gibt nichts zu sehen. Ich sehe nichts. Ich denke nur die ganze Zeit, wie seltsam es ist, dass dieses Eviezimmer – die Fußballlampe, ordentlich gestapelte Schulbücher, säuberlich aufgereihte Bleistifte mit leuchtend bunten Radiergummis am Ende und der Magic 8 Ball auf ihrem Schreibtisch (der jedes Mal Frag später noch einmal antwortet) – jetzt von zwei Männern mit gestreiften Krawatten eingenommen wird, die die Köpfe einziehen müssen, um sich nicht an den Dachschrägen zu stoßen. Sie stellen mir bestimmt eine halbe Stunde lang Fragen, immer dieselben. Ich sitze auf dem Bett, auf Evies knotiger gelber Tagesdecke. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll, also starre ich auf den dicken rötlichen Schorf auf meinem Knie, vom Training, ich fahre mit den Fingernägeln unter dem Rand entlang, zupfe ganz vorsichtig daran.
    »Lizzie«, sagt einer der beiden, »hat Eveline – Evie – gesagt, dass sie auf jemanden wartet?«
    »Nein. Sie wollte zu Fuß nach Hause gehen.«
    »Geht ihr sonst immer zusammen nach Hause?«
    »Ja, aber ich bin einkaufen gefahren.«
    Sie wiederholen ihre Fragen. Ich wiederhole meine Antworten, fahre mit den Fingern über mein Knie, über die Struktur des Schorfs. Die Fragen gehen jetzt in eine andere Richtung.
    »Hat Evie einen Freund?«
    Ich merke, dass ich rot werde,
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