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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
Autoren: Megan Abbott
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Kelli Hough in der Schule, ein paar von uns stehen um ihren Spind. Ich war die ersten drei Stunden nicht in der Schule, weil ich mit der Polizei geredet habe, und fühle mich unsicher, irgendwie verloren. Und dann steht Kelli da, mit ihrem Mundwerk, ihr französischer Zopf ist so straff geflochten, dass sie aussieht wie geliftet.
    »Corrine Willows«, flüstert jemand. Der Name macht wieder die Runde, er taucht hinter Spindtüren auf, in der Essensschlange in der Cafeteria. Wir waren in der zweiten Klasse, und Corrine war zwei Klassen über uns. Während einer Übernachtungsparty bei ihr zu Hause war jemand durch ihr Fenster hereingekommen, hatte sie gepackt und war mit ihr in die Nacht verschwunden. Man vergaß nicht mal die Details. Der Emily-Erdbeer-Schlafsack, das glänzende lila Nachthemd, die Schiene an ihrer linken Hand, weil sie sich im Sportunterricht den Finger verstaucht hatte. Es gab Suchtrupps. Sie durchkämmten den See und den Milky River.
    »Corrine war ein neunjähriges Kind«, sagt Tara Leary, rotgesichtig und gebieterisch. »Das ist nicht dasselbe.« Taras Vater arbeitet bei der Staatsanwaltschaft. »Außerdem weiß die Polizei genau, dass es ihr Vater war, da ging es ums Sorgerecht. Sie konnten es nur nicht beweisen.«
    Das klang alles plausibel, aber diese Art Wahrheiten spürte man nicht im Bauch, also wurden weiter Geschichten erzählt, von einem zum anderen getragen, ausgeschmückt, dass es gar nicht der Vater gewesen war, sondern jemand aus unserer Stadt, ein Kindermörder, einer von uns, der Corrines leblosen Körper irgendwo versteckt hatte, wo ihn niemand finden würde, zum Beispiel unter den Bodendielen der Schulturnhalle oder unter der Eisbahn an der Stadthalle.
    Die Mädchen schwirren den ganzen Tag um mich herum, und abends hängen sie an glühenden Telefonen, sie sagen, der Kindermörder hat wieder zugeschlagen. Alle sind atemlos.
    »Weiße Sklaven. Sagt meine Mutter. Hat sie im Fernsehen gesehen. Evie wurde wahrscheinlich an einen Scheich verkauft und ist schon unterwegs zu den Arabern.«
    »Es ist ein Kinderschänder. Und die bringen ihre Opfer immer in den ersten vierundzwanzig Stunden um.«
    Das sagen sie, sie stehen überall in kleinen Grüppchen in den Schulfluren, ganz aus dem Häuschen, weil Evie verschwunden ist. Aber ich glaube das nicht. Wenn Evie tot wäre, wüsste ich das. Etwas in mir würde sich leer anfühlen, und ich wüsste es. Sie ist nicht weg, sie ist nicht weg wie Corrine Willows, mittlerweile nur noch ein Name, kein Mädchen mehr, eine kleine Stichwunde, in die wir ab und zu ganz gern den Fingernagel pieken, um ein wenig darin herumzubohren. Corrine Willows ist nur noch ein Flüstern, eine unheimliche Leere. Evie könnte so etwas nie werden. Wir sind uns vielleicht körperlich nicht mehr so nah wie früher, aber immer noch nah genug, dass ich genau weiß: Evie hört nicht auf, sich zu bewegen, ihre flinken Beine, ihr strahlendes Lächeln – Ich kenne dieses Mädchen. Ich kenne dieses Mädchen besser als mich selbst.
    An diesem Abend liege ich im Bett und denke an alles Mögliche außer Evie und das, was mit ihr passiert sein könnte.
    Ich stelle mich vor das Fliegenfenster und sehe hinaus auf den weichen, nächtlichen Rasen.
    Während ich so nachdenke, im Dunkeln hin und her überlege, schleicht sich immer wieder etwas in meinen Kopf, und ich versuche, es zu fassen zu kriegen. Ich weiß nicht einmal genau, was ich suche, was es ist, das ich da im Hinterkopf habe.
    Es ist halb zwei, und alle anderen schlafen, oder versuchen es zumindest. Ich gehe auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, mein Nachthemd verfängt sich zwischen meinen Beinen, ich halte eine kleine Taschenlampe umklammert.
    Die Haustür ist genau vor meiner Nase, aber ich weiß, wie laut sie knarrt, genau wie die Verandatür, die beim Aufschieben erst quietscht und dann klappert. Stattdessen schiebe ich das halb offene Fenster im Wohnzimmer hoch und klettere auf das Fensterbrett, meine Knie drücken sich in die Rille.
    Wenn sich der stechende Schmerz in den Knien bloß nicht so gut anfühlen würde. Ich hasse das, wenn es sich so anfühlt, so hart, dass ich es am liebsten in den Mund nehmen würde. Das ist zu peinlich, um es auszusprechen. Nur Evie würde …
    Ich klemme mir die Taschenlampe zwischen die Zähne und schiebe mich durchs Fenster, lande mit den Füßen im Gras, es kitzelt zwischen den Zehen. Ich renne durch die Einfahrt der Ververs, fühle mich wie ein Geist.
    Es fühlt sich irgendwie toll
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