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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
Autoren: Megan Abbott
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Kichern in einem kuscheligen Schlafsack weitererzählen konnte. Wusstest du das?, flüstert Evie und erzählt mir, dass Dusty nach der Sängerin benannt wurde, deren Platte ihre Eltern in der Nacht, in der sie gezeugt wurde, sechzehnmal gehört haben. Das ist spannend und total unmöglich. Nicht mal meine schlimmsten Vorstellungen über die Verruchtheit und Verrücktheit der Erwachsenen lassen den Gedanken zu, dass Mrs. Verver ihrem Kind einen Namen gibt, der eine so intime, schaurige Anspielung ist.
    Nicht Mrs. Verver. Ich habe mein ganzes Leben lang neben ihr gewohnt und sie nie laut lachen hören, sie zum Telefon rennen oder auf den feuchtfröhlichen Straßenfesten im Juli tanzen sehen. Ordentlich, verbindlich, ausdruckslose Stimme, sie hatte etwas Flüchtiges, war ein Schatten, der von einem Zimmer ins andere huschte. Sie arbeitete als Beschäftigungstherapeutin im Krankenhaus der Veteranenvereinigung, und ich wusste gar nicht genau, was das eigentlich hieß, aber es sprach auch nie jemand darüber. Meistens sah man sie nur aus dem Augenwinkel vom Flur in ein Zimmer schlüpfen, einen Wäschekorb im Arm oder ein dickes Taschenbuch in der knochigen Hand. Diese Hände schienen immer trocken zu sein, fast staubig, und ihr Körper zu brüchig, als dass ihre Töchter oder ihr Mann sie in den Arm genommen hätten.
    Oh, und Mr. Verver, Mr. Verver, Mr. Verver, er ist derjenige, der immer in meinem Herzen vibriert, unter meinen Fingernägeln, an allen möglichen Stellen. Es gibt so viel über ihn zu sagen, und mein Mund bringt es nicht fertig, immer noch nicht. Er summt dort immer noch.
    Mr. Verver, der einen Football 50 Meter weit werfen und für seine Töchter kleine Prinzessinnen-Frisiertische bauen konnte, der mit uns Rollschuhlaufen und Bowlen fuhr, der nach frischer Luft und Limonen und Muskatnuss gleichzeitig roch – ein Duft, der für seine Mädchen für immer »Mann« bedeuten würde. Mr. Verver, er war da. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, zu der ich nicht zu ihm aufsah, immer noch mehr hören wollte, mir wurde ganz schwindelig, wenn er mir seine Aufmerksamkeit schenkte.
    Das sind die guten Dinge, und es gab so viele gute Dinge. Aber dann gab es noch andere Dinge, sie schienen erst später zu kommen, aber was, wenn das gar nicht stimmt? Was, wenn das alles schon die ganze Zeit da war, geräuschlos von einem Winkel in den anderen kroch, aus Evies nächtlichem Geflüster herauszitterte, aus den dunklen Löchern dieses sonnengedeckten Hauses, und ich habe es nicht gehört? Nicht gesehen?
    Ich wusste alles und gar nichts.
    Heute denke ich manchmal an die Wochen, bevor es passierte, und sie haben etwas Enthüllendes. Es war alles da, all die Hinweise, jeder Winkel ausgeleuchtet. Aber so war es natürlich nicht. Ich hätte es nicht sehen können. Ich konnte es nicht. Nein.
    Manchmal, nach all der Zeit, träume ich, ich würde wieder mit Evie Fußball spielen. Erst bin ich allein auf dem Feld. Es ist grün-schwarz, und ich dribble vor mich hin. Meine kurzen, stämmigen Beine. Mein komischer, kleiner, dreizehnjähriger Körper, kompakt und fremdartig. Blauer Fleck auf dem Oberschenkel. Schorf auf dem Knie. Tinte an den Fingern vom Herumkritzeln in der Schule. Strähniges Haar, von kühlem Mädchenschweiß an die Stirn geklebt. Arme wie kurze Spindeln mit kleinen Wurstfingern dran. Kaum Knospen unter meinem glänzenden grünen V-Ausschnitt. Wenn ich mir mit den Händen darüberfahre, sind sie kaum zu spüren. Das Becken noch eckig wie bei einem Jungen, ich drehe mich mit jedem Kick, trete den Ball zwischen meinen Füßen hin und her, warte auf Evie, die blitzartig vor mir ist, heiß und schwarz. Ihr Atem trifft mein Gesicht, ihr Bein schiebt sich zwischen meine und tritt den Ball frei, weg in die grüne Ferne, weiter als sie es beabsichtigt hatte.
    Wenn ich jetzt an Evie denke, schlüpft sie durch die Schatten. Große, dunkle, gehetzte, blutunterlaufene Augen. Sie rennt über das Fußballfeld, das Gesicht gerötet, die glatten schwarzen Haare kleben ihr auf dem Rücken. Sie rennt so schnell, der Atem sticht ihr in der Brust von der Anstrengung, noch schneller zu rennen, schneller auf den Rasen einzutrommeln, ihre Beine immer noch schneller zu bewegen, als könnte sie etwas durchbrechen, etwas, das niemand sonst gesehen hat.

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    2.
    E s ist Mai, der letzte Monat an der Junior High, und Evie, meine beste Freundin, liegt aufgestützt auf Schwester Stangs Untersuchungsliege, die so stahlkalt ist, dass es mir in
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