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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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nach dem Kontrollierten, sie Kontrollierenden, dem Menschen, der ihnen gut tut, also dem Partner , entwickelt haben – erst dann lassen sie ihrem Überdruss auch Taten folgen, ihrem Wiederholungsekel, ihrer Scham angesichts der eigenen Liebesmuster und Sexmechanismen, ihrem Zeit- und Todesdruck.
    Den freien Menschen, denen alles möglich schien, ist am Ende nichts möglich als die Vernunftehe. Sie mussten wählen [303] und brauchten also gute Gründe. Schließlich wählen sie das Bestbegründete, den Menschen, der ihnen gut tut. Die neue Vernunftehe ist nicht zuerst materiell begründet, sondern vor allem psychologisch. Die Menschen wollen endlich eine Privatsphäre haben, die sie vor den Strahlen der Gesellschaft schützt. Sie wollen sich vor der Einsamkeit schützen, dem eigenen Raum als Raum permanenten Kontrollverlusts, der permanenten Selbstbefragung und Selbstbefriedigung, der furchtbaren Intimität und Öffentlichkeit. Sie wollen mit Hilfe des Anderen ihren Schmerz reduzieren.
    Die Menschen sagen: »Die Vernunftehe ist mein letzter und einziger Ausweg. Ich kann nicht allein sein. Dann falle ich nur in meine Möglichkeiten. Ergo bist du da. Ich habe die Unendlichkeit zu fürchten gelernt. Die Freiheit ist ein Zwang gewesen. Ich möchte mich schützen. Ergo bist du da. Wenn die Freiheit ein Zwang ist, wird ein Zwang meine Befreiung sein. Ergo bist du da.«
    Jetzt beginnt der Kampf mit der Hydra. Denn tatsächlich hat die Partnersuche die Liebessuche ja nicht ersetzt, sondern ist nur hinzugekommen. Die Suche geht weiter, sie ist ein Automatismus.
    Wo die Menschen eine Hoffnung aufgeben, da wachsen zwei Hoffnungen nach. Die Hydra dehnt sich noch aus. Je konsequenter die Menschen versuchen, das Vielwesen durch einen zu ersetzen, umso mehr werden sie von ihren Hoffnungen und Erinnerungen heimgesucht. Nie war die Erwartung so groß, die Nostalgie und Reue. »Hätte ich doch! Und würde ich doch! Es wäre ja noch nicht zu spät!« Die Menschen fühlen sich in der Falle. Die tanzenden Köpfe versprechen ihnen alle möglichen Erregungen, Gleichheiten und Selbstüberschreitungen. Überall sehen die Menschen ihre Verlorenen und Verpassten, Vergangenheitszombies, Zukunftszombies.
    [304] Die Menschen, die mit der Unendlichkeit der möglichen Partner im Bund der Ehe lebten, haben nun unendlich viele Tote zu beklagen. Die Vergangenen sterben ihnen ein weiteres Mal, und auch die Künftigen sterben. Und doch wollen diese Toten nicht ruhen. Sie begegnen ihnen auf der Straße, im Internet, nachts in ihren Träumen. Es ist ein furchtbarer Spuk, ein Tanz der Toten, der Vergangenheitstoten, Zukunftstoten. Nie war der Schmerz so groß. Die Wut, die sich auf den Einen richtet, der die Unendlichen ersetzen soll – sie zerfrisst zuerst die Menschen selbst. Die Hoffnung ist jetzt eine schuldige, beschämende Hoffnung. Die Menschen versuchen, durchzuhalten. Sie sagen: »Alles, was ich in meinem Leben erreicht habe, habe ich gegen mich erreicht, in der Gegenrichtung, gegen den größten Widerstand.« Tausendmal verleugnen sie ihren Partner. Sie flüchten aus der Wohnung, hinaus in die Welt – und kehren doch zurück.
    An die Stelle eines Lebens im Konjunktiv, der ewigen Möglichkeitsform, tritt das Leben im Diminutiv, die Schrumpfung der Welt, vielmehr: der Versuch einer Schrumpfung der Welt. Ein Liebchen, ein Häuschen, ein Mädchen und ein Bübchen: Wo Erregung war, soll Behaglichkeit werden.
    Man stelle sich vor!
    Der Mann aus dem ersten Kapitel, der in den drei Jahren seiner Beziehung über das Internet weiter gesucht hatte, bemüht sich, die Frau, die sich von ihm getrennt hat, zurückzugewinnen.
    Nach einigen Monaten hat er Erfolg. Die beiden versichern sich ihrer Liebe, heiraten, ziehen in eine andere Stadt, ein anderes Land. Sie haben zwei Kinder, einen Hund (aber kein Internet).
    [305] Dennoch hat der Mann eine Sehnsucht. Er sucht weiter; zwar ohne ein Werkzeug, auch nicht mit seinem Körper, seinem Geist. Er sitzt nur auf flüssigen Plätzen und wartet. Die Welt zieht an ihm vorbei. Seine Augen sind offen, sie schmerzen.
    Auch die Frau sucht weiter. Auch sie hat eine Sehnsucht. Sie wartet. Auch die Frau lebt in einer flüssigen Welt. Passanten tauchen aus der Masse auf und gehen darin unter; sie sind jetzt schöner denn je, die Liebe auf den letzten Blick eine Alltäglichkeit. Die beiden führen eine Vernunftehe. Sie wissen, dass sie sich gut tun. Sie wissen, dass sie, wenn sie allein wären, permanent in ihre Möglichkeiten
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