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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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bleiben. Doch sie kennen jetzt auch die Unendlichkeit und haben gelernt, sie zu fürchten. Zu verachten.
    Sie haben den Glauben an den sogenannten technischen Fortschritt verloren, den sogenannten Kommunismus, die sogenannte Marktwirtschaft. Sie sagen: »Das waren Lügen, Märchen, Religionen.«
    Nur einen Glauben hatten sie bisher nicht aufgegeben – den Glauben an die Freiheit. Sie haben die Freiheit nur kritisiert als technische Überhebung, die den Menschen mit Apparaten konfrontiert, die er nicht mehr kontrollieren kann. Sie haben sie kritisiert als Revolte und Revolution, in denen die Freiheit untergeht im Gruppenzwang, der sogenannten Freiheitsbewegung, dem Freiheitsstaat. Sie haben sie kritisiert als die kapitalistische Freiheit der Konkurrenz und Spekulation, die die Menschen mit einem Markt konfrontiert, den sie nicht kontrollieren können.
    Sie haben die Freiheit dagegen nicht kritisiert als Freiheit des Selbst, die den Menschen mit einem Selbst konfrontiert, das er nicht mehr kontrollieren kann. Mit einem Willen, der ihn tyrannisiert. Sie haben die Freiheit nicht kritisiert als Verwandlung der Welt in Möglichkeiten – in absolute und unendliche Möglichkeiten. Sie haben die Freiheit nicht als Freiheit kritisiert.
    Auf die Technikenttäuschung, die Kommunismusenttäuschung und Kapitalismusenttäuschung folgt nun die Freiheitsenttäuschung. [309] Das Künstlerglück offenbart sich als Künstleralptraum, der freie Mensch als Gefangener im eigenen Raum. Unter dem Bombardement der erotischen Möglichkeiten rennen die Verführer von einst im verzweifelten Zickzack. Die Gelegenheiten – einst mit Geschick sich selbst verschafft – sind jetzt immer schon da, egal, wie schnell die Menschen laufen. Die Verführer werden bedrängt vom verführenden Überangebot. Don Juan in der Disko, Casanova in der Fußgängerzone – da stehen sie, gelähmt, mit schmerzenden Augen. Die freien Menschen sehnen sich nach Endlichkeit, nach Entfremdung: nach der Enteignung von einem Eigenen, das fremd geworden ist, zum Zwingenden.
    Die Menschen sagen: »Die unendliche Freiheit ist das Beste, was der Menschheit je passiert ist. Doch sie bringt mich fast um. Ich will in keiner anderen Gesellschaft leben als dieser, doch diese ist furchtbar, vernichtend. Die Sehnsucht und die Scham sind unerträglich. Meine Würde besteht darin, das zu sagen: Die Sehnsucht und die Scham sind unerträglich.
    Ich kann an meiner Verfallenheit an diese Welt, dem Fallen auf meine Möglichkeiten zu, nichts ändern. Meine Liebes- und Arbeitsmöglichkeiten, meine Entwicklungs- und Wohnortmöglichkeiten haben ihre Schwerkraft nicht verloren. Doch ich kann mich im Bewusstsein von der Erde lösen, durch ein Wort, einen Satz. Meine Freiheit ist unerträglich . Ich kann nicht fliegen, aber – doch, ja – hüpfen. Das ist meine Revolte. Kein Vogelflug, nur ein kindliches, lächerliches Hüpfen. Aber wie viel bedeutet es!
    Der große Sprung, heraus aus der Unendlichkeit, hinein in die Liebe, ist mir unmöglich. Doch mit einem Sprung meines Bewusstseins löse ich mich für eine Sekunde von der Welt, aus der Epoche. Jeder Satz – ein Sprung. Schon werde ich wieder angesaugt. Aber noch schwebe ich.

[310] NACHWEISE
    Der Mensch, der immer, wenn er das Haus verlässt, mit einem Ereignis rechnet, das sein Leben ändert, ist der Held in Emmanuel Boves Roman Meine Freunde von 1924. Die Studie, die ergeben hat, dass die Menschen heute ihre Partnersuche fortsetzen, obwohl sie einen Partner haben, stellten die Sozialwissenschaftler Kim Marie Lloyd und Scott J. South 1994 auf dem Jahrestreffen der Population Association of America vor. Die Frau, die auf der Straße stehen bleibt und zu ihrem Mann sagt »Geh weg, Bruno. Lass mich allein« ist Peter Handkes linkshändige Frau (1976). Die Frau, die sich scheiden lassen will, weil ihre Möglichkeiten in ihrer Ehe »eingekapselt« bleiben, ist eine Freundin von Johan und Marianne in Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman (1973). Ein Psychologe, der von einem »Interaktionsselbst« spricht, das mit jedem Partner anders sei, ist Jürg Willi (siehe sein Buch Die Zweierbeziehung von 1975); es handelt sich aber um kein wörtliches Zitat aus dem Buch, und Jürg Willi ist auch kein Propagandist unendlicher Entwicklung, diese liegt lediglich in der Logik des Begriffs vom Interaktionsselbst. Die Frau, die ihre sexuelle Autobiografie geschrieben hat, ist Catherine Millet ( Das sexuelle Leben der Catherine M. ; die Originalausgabe erschien
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