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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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Gerüchen, hängt in der Welt der Menschen jetzt alles ab von der Zeit.
    Die Menschen denken jeden Tag an ihr Alter, beobachten jeden Tag im Spiegel, in jedem Spiegel, den Fortschritt ihres [293] Alterns. Jedes graue Haar, jede Falte versetzt sie in Panik. Sie sind ja schon zu spät. Sie sind ja schon in Eile, haben ihre Zeit bereits überschritten. Tatsächlich will es den Menschen scheinen, als fielen sie dem Tod entgegen, als seien alle Staustufen aus dem Fluss der Zeit herausgenommen, die Zeit ein zischender Sturzbach. Die Menschen sagen: »Schon wieder ein Jahr vorüber! Schon dreißig! Schon vierzig! Schon fünfzig!« Ein Jahr scheint ihnen zu einem Monat, ein Monat zu einem Tag zu schrumpfen, ein Tag zu einem Augenblick. So viel leere Zeit hat es im Leben der freien Menschen gegeben, Zeit des Nachdenkens, der Unentschiedenheit, der Untätigkeit und Einsamkeit; jetzt ist der Zeitdruck enorm. Der Zeitdruck ist ein Todesdruck. Die Menschen sagen: »Ich muss das jetzt endlich tun. Sonst werde ich das in meinem Leben nicht mehr schaffen. Ich habe Todesdruck.«
    Die Menschen denken jeden Tag an den Tod, weil sie permanent überlegen, ob sie noch schaffen, was sie sich vorgenommen haben. Sie haben eine Arbeitsverspätung, eine Erfolgsverspätung, eine Liebes- und Familienverspätung. Sie haben eine therapeutische Verspätung.
    Sie denken: »Ich liege in allem zehn oder zwanzig Jahre hinter der Zeit. Ich müsste längst einen Beruf haben, meinen Beruf gefunden haben, meinen Stil gefunden haben, müsste längst lieben, eine Familie haben. Ich müsste viel länger in meinem Beruf sein, meine Kinder müssten viel älter sein. Selbst wenn ich meinen Stil finde, werde ich keine junge Hoffnung sein können. Wenn die Enkel kommen, bin ich ein Greis. Ich hätte meine Muster und Mechanismen vor zwanzig Jahren überwinden müssen. Ich habe zehn Jahre gebraucht, um die Muster meiner Herkunft zu überwinden. Das ist mein Entwicklungsroman gewesen. Dann habe ich zehn weitere Jahre gebraucht um die Muster meines Entwicklungsromans zu überwinden. Das ist mein zweiter Entwicklungsroman gewesen. [294] Ich verbrauche mein Leben, um zum Start zu gelangen. Der Todesdruck wächst mit jedem Tag.«
    Natürlich verwandelt dieses unerträgliche Zeitbewusstsein die Menschen nicht. Weder mit der Erkenntnis ihrer vertanen Vergangenheit noch mit der ihrer schwindenden Zukunft kann das Bewusstsein die Menschen von ihrem Weg abbringen. Seine ständigen Zeitansagen versetzen die Menschen in schreckliche Unruhe; dennoch geben sie ihre Hoffnung nicht auf, beenden sie nicht ihre Suche.
    Diese Widersprüche sind es vielmehr, deren Entfaltung das Bewusstsein der freien Menschen erst ausmacht . Die Menschen sind Wartende, die sich beeilen müssten und doch weiter warten. Sie glauben an die Freiheit, sich zu ändern, bleiben sich aber gleich. Sie müssen mit der Erinnerung des Immergleichen leben, der Lächerlichkeit ihrer Unfreiheit, dem permanent dröhnenden zu spät , zu spät . Kein dreißigstes Jahr erlöst die freien Menschen, kein vierzigstes, kein fünfzigstes.
    Wenn die Sonne schließlich doch auf etwas Neues scheint in ihrem Leben, so nicht deshalb, weil die Menschen ihre Spaltung überwunden hätten, sondern weil auch die Suche sich schließlich gespalten hat, weil zu der Liebessuche eine – buchstäbliche – Partnersuche hinzugekommen ist, der Wille zur Vernunftehe.
    Am Anfang suchten die Menschen nur die Liebe. Darin lag bereits ihr Scheitern begründet. Denn sie suchten nichts als die Liebe. Sie suchten ein Gefühl – doch ein Gefühl, das sich auf nichts mehr bezog als auf sich selbst. Die Menschen liebten im Anderen nicht das Leben, das mit ihm möglich schien, nicht die Existenz, die mit ihm möglich schien. Sie wollten den Anderen nicht als Transzendenz auf eine Zukunft lieben, sondern als Immanenz – jedes Du nur als Du selbst .
    [295] Da ihnen das Du nicht mehr ein Durchgang zur Welt war, schien es ihnen bald ein beschränktes Du zu sein. Meistens hatten die Menschen sogar Recht: Sie hatten tatsächlich einen Anderen gewählt, der kein Durchgang war zu einer Welt, mit dem keine Existenz möglich war. Sie hatten ein reines Sex-Du, reines Gesprächs-Du gewählt, und jetzt, da Sex und Gespräch sich langsam erschöpften, blieb ihnen nichts als eben dieses Du. Die Befreiung der Liebe von allen Zwecken, die nicht die Gegenwart betrafen, sondern die Zukunft, erwies sich als Täuschung. Sie verleitete die Menschen dazu, den Falschen zu
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