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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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Party war eine Sexparty, eine Sexmöglichkeit. Jeder Ort war ein Bois de Bologne . Ich fragte mich, ob ich nicht eine offene Beziehung haben, die freie Liebe praktizieren, ob ich nicht mehrere Partner gleichzeitig haben könne. Ich kannte Menschen, die alles taten, was man tun kann. In der Erinnerung lebte ich längst mit meinen Vielen. Jeder Mensch, der mir begegnete, erinnerte mich an einen, der mir früher begegnet war. Ich beklagte den Verlust der Einmaligkeit; und doch suchte ich zugleich die Wiederholung alles Vergangenen. Ich hatte meine Kapazität erschöpft. Bei der ersten Begegnung mit einem Menschen versuchte ich, ihn zu küssen. Ich fiel auf meine Möglichkeit zu, den Fremden zu küssen, wie ein Stein zu Boden. Ich war immerzu im freien Fall. Ich merkte erst allmählich, dass einer, der vor die Wahl gestellt wird, gar keine Wahl [286] hat. Ich tat alles, was man sofort tun konnte, sofort. Ich gab alles, sogar die Hoffnung. Dann brach ich den Kontakt ab. Ich wollte meine Freiheit zurückgewinnen. Tatsächlich wechselte ich nur von einem freien Fall zum anderen, fiel von einem Gestirn zum anderen, von der absoluten Kontaktmöglichkeit zur absoluten Möglichkeit des Kontaktabbrechens.
    Ich lebte in einer senkrechten Stadt. Die Anderen fielen auf mich zu; ich fiel auf die Anderen zu. Es gab kein Halten mehr. Jeden Tag widerfuhr sie mir, die Liebe auf den ersten Blick – und die Enttäuschung auf den zweiten. Ich war ruhelos, ständig in Bewegung. Überall und zu jeder Zeit erwartete ich den Erhofften. Meine Augen schmerzten. Ich bestand nur noch aus Augen. Alles, was es zu sehen gab, wollte ich sehen, nahm ich begierig in mich auf. Ich wusste nicht, dass man das, was man einmal gesehen hat, immer sehen wird, nicht mehr vergessen kann. Ich dachte, dass ich alles, was ich sehen konnte – auf der Straße, in der Zeitung, im Fernsehen – auch haben können würde. Ich fieberte jeder Begegnung mit einem Unbekannten entgegen. Ich folgte Gerüchten, unternahm sinnlose Reisen. Jeder Mensch erschien mir als eine Möglichkeit. Kein Gebundensein, kein Alter, keine Klassen-, keine Kulturzugehörigkeit machten ihn unmöglich. Ich wusste, dass ich jeden, der in der Stadt an mir vorbeiging, ansprechen konnte; dass ich die Anonymität der Massen mit einem Wort in Intimität verwandeln konnte – zwischen einem Ich und einem Du. Meine Wirklichkeit wurde auseinandergetrieben vom Druck der Möglichkeiten. Im Sommer saß ich in flüssigen Parks, fuhr um die Welt, ohne mich zu bewegen. Die Massen trieben an mir vorbei, rollten brandend vor meine Füße. Passanten lösten sich aus der Masse wie Gischt aus dem Meer. Sie bedeuteten mir alles, sie waren alle. Ja, ich liebte die Passanten. Vorübergehend. Ich wanderte durch die Industriegebiete [287] der Liebe und führte tiefe Gespräche am laufenden Band.
    Ich empfand einen Mangel – im Überfluss. Ich suchte nach dem besten im Überfluss der möglichen Partner. Ich wollte mit meiner Suche aus meiner Suche herausfinden, hinein in eine Notwendigkeit, in das Schicksal, den Alltag. Ich führte ein Leben in der Öffentlichkeit. Keine Privatsphäre aus Familien-, Freundes- und Liebesbanden schützte mich vor den Strahlen der Gesellschaft, vor dem Erfolgsdruck, dem Schönheitsdruck. Ich lebte in einem tückisch entgrenzten Lebensraum. Jede Entscheidung schien mir vorzeitig, unvernünftig. Ich wählte – die Suche. Keine Wahl war die beste Wahl. Ich hatte kein Gespür mehr für Grenzen, ich streckte meine Fühler in die Unendlichkeit. Das Suchen löste eine enorme Unruhe aus – der ich mit noch mehr Suchen begegnete. Aus meiner Suche wurde Sucht. Mein Körper, mein Gehirn veränderten sich. Alle Organe, die permanent der Unendlichkeit ausgesetzt waren, wuchsen auf unnatürliche Weise. Meine Erinnerung und meine Hoffnung schwollen immer weiter an. Ich hatte riesige Augen. Mein Bewusstsein begann ins Unendliche zu wachsen. Immer genauer, detaillierter wusste ich, was ich wollte und was auf keinen Fall. Durch meine Nervenbahnen floss ein beständiger Strom, doch mein Körper krümmte sich und verkümmerte. Denn ich war zu einem Wartenden geworden. Mein Suchen wurde Warten und Sitzen, Sitzen und Warten. Da die Unendlichkeit der möglichen Partner, die ganze Welt, immer und überall an mir vorbeifloss – in den Straßen der Stadt, bei der Arbeit, im Café, zu Hause am Computer –, machte keine Bewegung meinerseits mehr einen Sinn. Ich hatte meine Suche verloren an die flüssige Welt.
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