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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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ihrer Selbstwiederholung müde. Das Nichts verwandelt sich vom vorgeburtlichen Schweben in verfrühtes Greisentum, depressive Leere.
    Die Menschen spüren, dass das Neue nicht unendlich wiederholbar ist. Die Besuche aller neuen Ausstellungen, alle Kunstkonfrontationen, sind – abgesehen vom je Angeschauten – Besuche einer Ausstellung (»schon wieder eine Ausstellung«). Der Sex mit allen neuen Menschen ist Sex mit einem Unbekannten (»schon wieder Sex mit einem Unbekannten«). Alle Reisen in unbekannte Länder sind Reisen in ein unbekanntes Land (»schon wieder eine Reise in ein unbekanntes Land«). Alle Umzüge in eine neue Stadt sind Umzüge in eine unbekannte Stadt (»schon wieder umziehen«). Stets bilden die Möglichkeiten des Neuen, der Erfahrung und Bewusstseinserweiterung, hinterrücks eine Gruppe, schließen sich zusammen zu einer Gattung, und das Neue an ihnen wird nebensächlich: Gursky statt McCarthy, blonde statt braune Haare, Barcelona statt Berlin.
    Auch das Nichts besteht aus endlosen Wiederholungen. Die Menschen, die nicht lieben, sind den furchtbaren Wiederholungen ihres einsamen Lebens ausgeliefert. Die Menschen, die nicht arbeiten, sind den Wiederholungen ihres »Herumhängens« und »Zeittotschlagens« ausgeliefert. Wer nirgends zu Hause ist, ist den Wiederholungen seiner Unstetigkeit ausgeliefert. Die Seele, die aus Angst vor ungünstiger Inkarnation endlos um die Erde kreist, erlischt aus Langeweile.
    Die freien Menschen geraten in einen Überdruss. Sie wollten stets nach Unbekanntem suchen – doch schließlich ist ihre Suche nach Unbekanntem selbst das Altbekannte . Sie [284] wollten sich ständig entwickeln, doch schließlich ist ihre ständige Entwicklung ihr Stillstand , ihre Wiederholung. Sie sind sich unerträglich bekannt, nicht weil sie vor langer Zeit schon ein Selbst gewählt hätten und diesem treu geblieben wären – samt Adresse, Arbeit, Liebe –, sondern weil sie ihr Selbst schon seit langem als ihr Noch-nicht-Selbst kennen, mit seinen Noch-nicht-Adressen, Noch-nicht-Berufen und Noch-Nicht-Lieben.
    Die Redundanz des Lebens erreicht zwei Spitzenwerte: bei den total Festgelegten und bei den total Beweglichen. Der Treibende erfährt mehr Wiederholung als der Sesshafte, der Freie mehr als der Gebundene. Das Kleid der Hoffnung ist am Ende so grau wie das der ängstlichen Zufriedenheit, das Unendliche zu suchen, ein endliches Vergnügen.
    Die Menschen, die alles, was sie tun, als Wiederholung erfahren, denken über ihr Leben nach. Sie scheinen sich nun in einem jener Romane zu befinden, wo die Helden nicht nur bis ans Ende ihrer Möglichkeiten gehen, sondern den ganzen Roman schon kennen , in dem sie ihren Auftritt haben. Sie sagen: »Ich kenne jetzt das Stück, in dem ich spiele. Und die letzte Zeile lautet: Alles noch einmal von vorn. Meine Möglichkeiten sind vor allem Wiederholungsmöglichkeiten.«
    Die Menschen denken also: »Ich habe mich immer wieder getrennt, weil ich unzufrieden war. Ich habe gewartet. Ich habe immer weiter gesucht. Ich habe mich in Beziehungen aufgehalten wie in einem Wartezimmer. Alles ist vorläufig gewesen. Wenn ich von zu Hause wegging, erwartete ich immer ein Ereignis, das mein Leben von Grund auf ändern würde. Je älter ich wurde, umso erfahrener wurde ich – und umso mehr hielt ich für möglich. Ich habe den Kontakt zu Menschen abgebrochen, weil sie nicht wussten, wie der Regisseur Fassbinder mit Vornamen heißt. Wenn ich jemanden [285] getroffen hatte, fürchtete ich mich davor, seinen Freunden und Geschwistern zu begegnen; immer gab es einen Freund, eine Schwester, die noch schöner waren, deren Anblick mich in den Schmerz stürzte, zur Auflösung der Verbindung trieb. Durch jede Tür sprang ein Vergleich. Ich dachte: ›Lebte ich doch im licht- und menschenlosen Norden, in Kälte, Dunkel, Menscheneinsamkeit, neben meinem Haus kein anderes, neben meinem Menschen kein anderer!‹
    Doch ich lebte in den großen Städten. Ich dachte, dass das Leben mit dem, mit dem ich lebte, meine Möglichkeiten einkapselte; dass wir uns auf eine tödliche Weise im Wege standen. Ich entschloss mich zur Trennung. Ich stieg aus meinem Leben aus wie aus einer Straßenbahn und ließ die Zeit alleine weiter fahren. Jetzt erst nahm ich die Zeit wahr, wie sie sich bewegte, wie sie an mir vorüberfuhr, der ich stand und wartete.
    Ich zählte meine Begegnungen, Versuche und auch die Körper ohne Kopf. Ich konnte mich nicht an alle Namen, alle Gesichter erinnern. Jede
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