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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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therapeutische. Vielmehr, das therapeutische Bedürfnis siegt im Zweifelsfall immer über das romantische. Die romantischen Menschen hatten eine ungeheure Leidensbereitschaft, Leidenssehnsucht. Sie erkannten am Leiden das Leben, die Liebe. Die freien Menschen dagegen haben ihre Leidensbereitschaft auf Null reduziert. Sie sagen nicht mehr: »Ich leide, also lebe ich.« Sondern: »Ich leide, also kümmere ich mich nicht um mich selbst, also habe ich die Kontrolle verloren.«
    Lange genug haben die Menschen die Freiheit als totalen Kontrollverlust erfahren – ihr Hineinfallen in Möglichkeiten als schreckliche Verantwortungslosigkeit, ihre Suche als ein Nicht-aufhören-können-zu-suchen. Je länger die Menschen der unendlichen Freiheit ausgesetzt waren, umso mehr versuchten sie, ihr Leben zu kontrollieren – durch Selbstkontrolle und Selbsttherapie, Moral und Disziplin, durch einen Partner.
    Nur mit einem Menschen, der ihnen gut tut, dem Menschen als Partner, erlangen sie ein wenig Kontrolle zurück. Jahre- und jahrzehntelang sind sie hineingefallen in ihre Liebes- und Sexmöglichkeiten, ihre Trink- und Drogenmöglichkeiten, ihre Untätigkeits- und Arbeitsmöglichkeiten, ihre Fluchtmöglichkeiten.
    Also sagen die Menschen: »Ich brauche einen Partner, der mich kontrolliert, der mir hilft, mich zu kontrollieren. Ich [301] brauche mehr Selbstkontrolle und Kontrolle durch einen Anderen. Wenn alles erlaubt ist, muss ich mir alles verbieten – und verbieten lassen. Wenn mir alles möglich ist, muss ich mir alles unmöglich machen – durch Selbstkontrolle und Selbstdisziplin, die Kontrolle und Disziplin eines Anderen. Die Gesellschaft kontrolliert mich nicht; ich selbst kann es nicht. Also muss es ein Anderer tun. Der Mensch, der mir gut tut, ist die einzige Möglichkeit, die Schutz vor den unendlichen Möglichkeiten bietet.«
    Die Menschen, die sich jahrzehntelang nicht kontrollieren konnten, wollen ihr Leben also endlich unter Kontrolle bekommen. Sie sagen: »Wenn es keine Kontrollinstanzen mehr gibt, dann braucht man ein Kontrollbewusstsein.« Die Menschen pendeln zwischen totalem Kontrollverlust und totaler Kontrolle, zwischen der Angst vor dem totalen Kontrollverlust und der Hoffnung auf die totale Kontrolle.
    Die Menschen, die einer Unendlichkeit von Möglichkeiten ausgesetzt sind, leiden also unter einem zweifachen übermäßigen Organwachstum: einerseits dem Wachstum aller Such- und Suchtorgane, andererseits dem Wachstum aller Kontrollorgane, die permanent versuchen, die Such- und Suchtorgane unter Kontrolle zu bekommen. Die Menschen haben einerseits einen überausgeprägten Sehsinn, anderseits einen überausgeprägten Zeitsinn, der ihnen immerzu sagt, dass sie für das alles, was sie sehen, ja gar keine Zeit mehr haben. Die Menschen sind nur darum so verkopft , weil sie zuvor total verkörpert wurden, weil sie immerzu hingerissen sind, in ihr Verlangen fallen. Die Hypertrophie ihres Verlangens erzeugt die Hypertrophie ihrer Vernunft.
    Die freien Menschen haben gigantische Geschlechtsorgane und gigantische Gehirne, die gegen ihre Geschlechtsorgane angewachsen sind. Wie jede Krümmung der Wirbelsäule zur [302] einen Seite sofort eine Ausgleichskrümmung zur anderen Seite provoziert, so ruft jede Hypertrophie des Begehrens eine Hypertrophie der Kontrolle hervor, jedes Genitalwachstum ein Gehirnwachstum.
    Die Menschen sagen: »Ich habe mit anderen gelebt, andere geliebt, die permanent die Kontrolle verloren haben. Die sich von Brücken und Bergen stürzen wollten, sich auf andere Menschen stürzten. Die in einem fort anriefen. Die sich weigerten, ans Telefon zu gehen. Die die Kontrolle an ihre Angst verloren, ihre Wut. Die nicht aufhören konnten zu reden. Nicht aufhören konnten zu schweigen. Die ständig aßen. Nicht mehr essen wollten. Ständig schliefen. Nicht mehr schlafen konnten. Die Rasende waren. Gelähmte. Die durchs Lebens trieben. Denen man alles vorkauen musste, alles hinterhertragen. Die immerzu Ideen und Meinungen hatten, nie Antrieb, nie Geld. Die immerzu taten, was sie fühlten. Nie fühlten, was sie taten. Die in allem zu spät waren. Die immerzu in ihre Möglichkeiten fielen. Sich jede Freiheit, die sie hatten, nahmen.«
    Sie sagen: »Die Freiheit ist immer zurerst die Freiheit des Anderen gewesen, des Andersfühlenden, des anderen freien Menschen. Ich will jetzt endlich einen finden, der sich unter Kontrolle hat, der mir hilft, mich selbst zu kontrollieren.«
    Erst wenn die Menschen diesen Wunsch
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