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Das elektronische Glück

Titel: Das elektronische Glück
Autoren: dieverse Autoren
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mir, mit deren Hilfe er sich sofort ausgezeichnet gefühlt hätte.
     Als Tunjawski wieder zu sich kam, blickte er auf die andere Seite des Tisches, wo eben noch das Klümpchen Materie gelegen hatte. Aber dort lag nichts mehr. Ich hatte Eroja wieder im Etui versteckt und das Etui zu mir genommen.
     »Wer sind Sie?« fragte mich Tunjawski.
     »Genau die gleiche Frage hat mir Immanuel Kant gestellt«, sagte ich leise.
     »Kant hat Ihnen diese Frage nicht gestellt.«
     »Woher wissen Sie das? Sie waren doch nicht dabei.«
     »Ich selbst habe diese Episode ausgedacht.«
     »Nun ja, wunderbar. Dann ist ja alles wieder in Ordnung.«
     »Also ist nichts gewesen? Dann ist mir alles nur so vorgekommen?«
     »Ja, es ist Ihnen nur so vorgekommen«, antwortete ich. »Wer sind Sie dann?«
     »Eine Person Ihrer Erzählung. Sind Sie damit zufrieden?«
     Er lachte. Diesmal lachte er fröhlich. »Mag es so sein. Ich will mir nicht den Kopf zerbrechen und diesen Knoten entwirren. Warum sind Sie denn aufgestanden? Wollen Sie gehen?«
     »Auf Wiedersehen«, sagte ich. Er versuchte nicht, mich zurückzuhalten. Ja, er war ein Mensch. Und er war ehrlich. Er wunderte sich wirklich und wollte mir nicht glauben, daß ich Raurbef sei. Nicht nur die Dilnea, sondern auch mich und Eroja hat er sich also ausgedacht. Doch an eine solche Übereinstimmung von Erfindung und, Realität kann man unmöglich glauben. Folglich hat er uns auf den Arm genommen. Mit welchem Ziel?
     So seltsam es auch war, Eroja, die künstliche Eroja, das Rätsel der Rätsel, vertrug nichts Rätselhaftes.
     »Du mußt das herausbekommen, Raurbef«, sagte sie zu mir. »Was?«
     »Woher er unser Geheimnis kennt.«
     »Er behauptet, er habe sich alles ausgedacht.«
     »Aber du glaubst doch noch weniger daran als ich.«
     »Wir brauchen uns damit nicht zu beeilen. Früher oder später werden wir es schon noch erfahren. Jetzt lese ich dir erst einmal seine Erzählung ›Uära‹ vor, die ich mir heute aus der Bibliothek geholt habe.«
     Ich las ihr den ganzen Abend lang vor. Manchmal unterbrach sie mich: »Aber so ist es doch nicht gewesen. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. Erinnerst du dich daran, Raurbef?«
     »Wahrscheinlich hat er sich das, wovon du sprichst, ausgedacht, damit es interessanter wirkt, das andere aber ist genau dargestellt. Was meinst du dazu, Eroja?«
     »Mir scheint, er hat in jedem von uns gelebt. Er hat unsere Gespräche gehört und in unseren Gedanken gelesen. Aber lies weiter«, sagte sie, »vielleicht finden wir am Schluß eine Erklärung für diese seltsame Tatsache.«
     Ich las die ganze Erzählung bis zu Ende. Doch der Schluß befreite uns nicht von unseren Zweifeln; im Gegenteil, er verstärkte sie nur noch. Der Umstand, daß mein Leben auf der Dilnea in einem irdischen Buch dargestellt war, verursachte mir ein bisher nicht gekanntes Gefühl. Es schien, als lebte ich und lebte doch nicht, als sei ich hier, gleichzeitig aber verstrickt in eine ferne und mir fremde Erzählung, hinaufgehoben in eine andere, wunderbarere Ebene des Seins.
     Nein, das konnte ich nicht hinnehmen. Ich bezweifelte meine Realität durchaus nicht; der Umstand, daß ich zu einem Objekt in der Phantasie des Belletristen Tunjawski geworden war, durfte das Gefühl meiner Würde nicht verletzen. Letztlich war es nicht ausgeschlossen, daß hinter dieser anscheinend irrationalen Erscheinung eine völlig rationale Wirklichkeit stand. Die Telepathie – diese alte und gleichzeitig sowohl auf der Erde als auch auf der Dilnea »junge« Wissenschaft – befand sich noch in ihrem Anfangsstadium. Das Zusammenfallen von Erfindung und Wirklichkeit ließ sich offenbar nur mit den telepathischen Fähigkeiten Tunjawskis erklären, dem es gelungen war, Raum und Zeit mit einem sechsten, von der Wissenschaft noch nicht entdeckten Sinn zu überwinden.
     So dachte ich, als ich sein Buch über mich las. Zu Eroja jedoch, dem Klümpchen formloser Materie, sagte ich nichts davon. Außerdem lag sie schon in ihrem Etui, eingehüllt in jenen Zustand der Abwesenheit, der so gut zu ihrem Wesen paßt, zu ihrem Wesen, das eher materieller Natur war, als daß es einem lebenden Geschöpf eigen gewesen wäre.

    9

    Auf der Straße traf ich eine alte Frau, die mich liebenswürdig lächelnd fragte: »Junger Mann, sagen Sie mir bitte, wie spät ist es?«
     »Halb sechs«, antwortete ich.
     Sie schaute mich noch einmal an und ging weiter, langsam ihre rheumatischen Beine bewegend.
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