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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman
Autoren: Anne Perry
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das Gleichgewicht. »Für die zwei kommt jede Hilfe zu spät«, murmelte er. »Sind nach dem Sturz aus dieser Höhe auf der Stelle ertrunken. Ein Jammer«, fügte er leise hinzu. »Das Mädchen sieht nicht älter aus als zwanzig. Hübsches Gesicht.«
    Monk setzte sich wieder auf die Bank. »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, wer sie war?«
    Orme schüttelte den Kopf. »Wenn sie’ne Tasche hatte, wie sie die Damen tragen, ist sie weg. Aber in der Manteltasche ist ein Brief, und der ist an eine Miss Mary Havilland in der Charles Street gerichtet. Er ist schon gestempelt worden, so als ob er abgeschickt und überbracht worden wäre. Kann also sein, dass sie das ist.«
    Monk beugte sich vor und durchsuchte seinerseits systematisch die Taschen des Toten. Ihm bereitete es im Vergleich zu Orme mehr Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, als das Boot die Rückfahrt flussabwärts nach Wapping fortsetzte. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu bleiben und einen Mann am Ufer abzusetzen, um ihn nach Zeugen eines Streits suchen zu lassen – wenn das, was sie gesehen hatten, denn einer gewesen war. Jetzt ließ sich nicht mehr feststellen, wer zum entsprechenden Zeitpunkt auf der Brücke unterwegs gewesen war. Abgesehen davon hatten sie vom Fluss aus so viel mitbekommen, wie wohl jeder Passant oben. Zwei Personen, die sich gestritten – oder vielleicht geküsst – hatten, hatten sich voneinander gelöst, das Gleichgewicht verloren und waren in die Tiefe gestürzt. Es gab nichts, was da irgendjemand noch hinzufügen konnte.
    Soweit Monk sich erinnerte, waren die beiden die einzigen Fußgänger auf der Brücke gewesen, als es passierte. Es war die Stunde, in der die Lampen noch nicht angezündet sind, aber das Tageslicht bereits schwindet und die Welt in ein Grau getaucht ist, das das Auge leicht täuschen kann. Man sieht die Dinge nur noch bruchstückhaft, den Rest ergänzt die Vorstellungsgabe, und das bisweilen unzutreffend.
    In einer der Taschen entdeckte Monk eine lederne Geldbörse mit ein paar Münzen darin und ein Etui mit Ausweisen. Bei dem Mann handelte es sich offenbar um Toby Argyll aus der Walnut Tree Walk in Lambeth. Demnach hatte er in der Nähe des Mädchens im südlich des Flusses gelegenen Stadtteil Lambeth gewohnt. Die Charles Street war wie der Walnut Tree Walk eine Nebenstraße der Lambeth Walk. Er las die Adresse Orme vor.
    Das Boot fuhr jetzt langsam, da nur noch zwei Männer die Ruder bedienten. Orme kauerte nahe bei Argylls Leiche auf dem Boden. Am Ufer gingen allmählich die Lampen an, gelbe Monde im dichter werdenden Dunst. Der Wind war eisig. Es war Zeit, die eigenen Laternen anzuzünden, sonst gäbe es noch einen Zusammenstoß mit einer entgegenkommenden Barke oder einer der Passagierfähren, die zwischen den Ufern verkehrten.
    Monk zündete die Bootslampe an und ging vorsichtig zur Leiche der Frau zurück. Sie lag auf dem Rücken. Orme hatte ihr die Hände gefaltet und die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Haut war bereits weiß-grau, als wäre sie nicht erst ein paar Minuten tot.
    Sie hatte einen breiten Mund und hohe Wangenknochen unter anmutig gewölbten Augenbrauen. Es war ein sehr feminines Gesicht, stark und verletzlich, eine Frau, die vielleicht leidenschaftlich und voller großer Pläne gewesen war.
    »Armes Ding«, sagte Orme leise. »Wir werden wohl nie wissen, was sie dazu getrieben hat. Vielleicht hat er ihre Verlobung gelöst oder so was.« Sein Gesichtsausdruck war in der zunehmenden Dunkelheit kaum zu erkennen, aber Monk hörte das tiefe Mitleid in seiner Stimme.
    Plötzlich wurde Monk bewusst, dass seine Arme vom Bergen der Leichen bis zu den Achseln durchnässt waren. Er zitterte vor Kälte und konnte nicht sprechen, ohne gleichzeitig mit den Zähnen zu klappern. Ohne Bedenken hätte er alles Geld in seinen Taschen für eine heiße Tasse Tee mit einem Schuss Rum gegeben. Er konnte sich nicht erinnern, an Land jemals derart schrecklich gefroren zu haben.
    Selbstmord war ein Verbrechen, nicht nur gegen den Staat, sondern auch in den Augen der Kirche. Wenn der Coroner zu diesem Schluss gelangte, würde die Frau nicht in geweihter Erde bestattet. Und dann stellte sich auch noch die Frage nach dem Tod des jungen Mannes. Vielleicht war es sinnlos, darüber zu grübeln, dennoch sagte Monk unwillkürlich: »Hat er versucht, sie davon abzuhalten?«
    Das Boot bewegte sich langsam gegen die Flut. Das Wasser war unruhig und klatschte gegen die hölzernen Wände
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