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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman
Autoren: Anne Perry
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angeschaut, seit er sie kannte.«
    »Er liebte sie?« Das konnte natürlich vieles bedeuten: wahres, selbstloses Geben, das von Herzen kam, oder Geben, das von Not diktiert war, bis hin zum Drang nach Herrschaft, wenn nicht sogar Besessenheit. Und hinter einer Zurückweisung konnte alles Mögliche stecken: Resignation, Elend, Zorn, vielleicht auch Rachsucht oder der Drang zu zerstören.
    Die Frau zögerte.
    »Mrs. Porter?«
    »Ja!«, sagte sie unwirsch. »Sie waren verlobt – zumindest hat er es anscheinend so gesehen -, aber dann hat sie Schluss gemacht. Formell waren sie’s sowieso nie. Es hat nie’ne öffentliche Ankündigung oder so was gegeben.«
    »Wissen Sie, warum nicht?«
    Sie starrte ihn verblüfft an. »Ich? Natürlich nicht.«
    »War noch jemand anderes im Spiel?«
    »Bei ihm nich’, und bei ihr auch nich’, glaub ich. Das hab ich ihn wenigstens so sagen hören.« Sie schniefte lange und schluckte. »Das is’ einfach schrecklich! So was hab ich noch nie gehört. Doch nich’ bei so feinen Leuten! Wegen was sollten die denn von’ner Brücke springen? Mr. Argyll wird es das Herz brechen, wenn er es erfährt, der arme Mann.«
    »Mr. Argyll? Sein Vater?«
    »Nein, sein Bruder. Is’n gutes Stück älter. Glaub ich zumindest.« Sie schniefte erneut und suchte in der Schürzentasche nach einem Taschentuch. »Ich hab ihn bloß fünf, sechs Mal gesehen, als er Mr. Toby besuchen kam. Ein sehr wohlhabender Herr. Besitzt diese riesigen Maschinen, mit denen sie die neuen Abwasserkanäle graben. Sie wissen schon, Mr. Bazalgette hat doch die Pläne dafür entworfen, damit sie London endlich sauber machen können und wir nich’ mehr Typhus, Cholera und so was alles kriegen. Da musste erst Prince Albert sterben, Gott hab ihn selig, und der armen Queen Victoria das Herz brechen, ehe sie damit angefangen haben. Eine schlimme Welt ist das!«
    Monk erinnerte sich noch genau an den »Great Stink« aus dem Jahre 1858, als sämtliche Abwassergräben übergequollen waren und ganz London sich in eine riesige offene Kloake verwandelt hatte. Die Themse hatte dermaßen widerwärtig gestunken, dass einem davon schlecht wurde, selbst wenn man eine Meile von ihr entfernt war. Das neue Kanalnetz sollte das modernste von ganz Europa werden. Es sollte Unsummen kosten und Tausenden Arbeit bringen, wenn nicht sogar Abertausenden, wenn man zu den »Navvys« – den Kanalbauarbeitern – auch all die anderen dazuzählte, die indirekt ebenfalls davon betroffen waren: Ziegelbrenner, Eisenbahnarbeiter, Maurer, Zimmermänner und andere Lieferanten. Die meisten Kanäle sollten nach dem einfachen Aushubverfahren gebaut werden – aufreißen und zuschütten wurde es genannt -, aber einige wenige sollten in größerer Tiefe als geschlossene Tunnel gebaut werden.
    »Mr. Argyll war also ein wohlhabender junger Mann?«
    »O ja.« Mrs. Porter richtete sich auf. »Das hier ist ein sehr gutes Haus, Mr. Monk. Die Zimmerherren leben hier nicht billig, verstehen Sie?«
    »Und Miss Havilland?«, bohrte Monk nach.
    »Ach, die war auch was Besseres, das arme Ding«, antwortete Mrs. Porter sofort. »’ne richtige Dame war sie, trotzdem dass sie mit ihrer Meinung nie hinterm Berg gehalten hat. Ich selber hab eigentlich nix dagegen gehabt, auch wenn manche Leute finden, dass sich so was für eine junge Dame einfach nich’ gehört.«
    Da er selbst mit einer Frau verheiratet war, die ihre Meinung zu einer ganzen Reihe von Dingen mit größtem Nachdruck kundtat, konnte Monk nicht widersprechen. Mehr noch: Plötzlich sah er Mary Havilland nicht mehr als das, was sie jetzt war – eine Tote mit wächsernem Gesicht -, sondern er sah vielmehr die schlanke, temperamentvolle, verletzliche Hester vor sich, mit ihren ein wenig zu schmalen Schultern, dem etwas kantigen Gesicht, dem braunen Haar und Augen, aus denen eine solche Leidenschaft blitzte, dass er sie nie hatte vergessen können, seit sie sich kennen gelernt – und gleich das erste Mal gestritten – hatten.
    Seine Stimme war heiser, als er die Befragung fortsetzte. »Wissen Sie, warum sie die Beziehung abgebrochen hat, Mrs. Porter? Oder hatte Mr. Argyll sie längere Zeit in einem Irrtum belassen, bis schließlich er sie beendete?«
    »Nein, nein, das war schon sie«, erklärte die Frau, ohne zu zögern. »Er war sehr aufgeregt und hat versucht, sie umzustimmen.« Sie schniefte erneut. »Ich hätte nie gedacht, dass es zu so was kommen würde.«
    »Wir wissen noch nicht, was geschehen ist«, erklärte Monk.
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