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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman
Autoren: Anne Perry
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dieser Höhe, wo es keinen Schutz gab, musste sie noch mehr frieren als Monk.
    Orme lenkte das Boot weiter in die Mitte der Strömung. Sie waren auf dem Rückweg zu ihrer flussabwärts gelegenen Wache in Wapping. Vor sechs Wochen noch war Durban dort Dienststellenleiter gewesen und Monk ein Privatermittler. Er konnte immer noch nicht daran denken, ohne dass sich ihm die Kehle zuschnürte, und nie verließ ihn ein Gefühl von Schuld und Einsamkeit. Immer wenn er eine Gruppe Flusspolizisten sah und jemand darunter einen lässigen, wiegenden Gang und rundliche Schultern hatte, erwartete er, dass der Mann sich jeden Moment umdrehen und dass er Durbans Gesicht erkennen würde. Aber dann kehrte unweigerlich die Erinnerung zurück, und ihm wurde jedes Mal wieder klar, dass das nicht geschehen konnte.
    Die Brücke war jetzt noch etwa sechzig, siebzig Meter weit entfernt. Das Paar stand immer noch an der Balustrade. Der Mann hielt die Frau an den Schultern, als wolle er sie in die Arme nehmen. Vielleicht waren sie ein Paar. Ihre Worte konnte Monk natürlich nicht vernehmen – der Wind riss sie sogleich mit sich fort -, aber ihre Gesichter verrieten leidenschaftliche Gefühle, die mit jedem Meter, den sich das Boot näherte, deutlicher zu erkennen waren. Monk fragte sich, worum es ging: ein Streit, ein letzter Abschied – oder am Ende beides?
    Die steigende Flut verlangte den Polizisten an den Rudern äußerste Kraftanstrengung ab.
    Monk sah wieder auf und bekam gerade noch mit, wie der Mann mit der Frau rang. Beide schienen erbittert ineinander verkeilt. Die Frau stand mit dem Rücken zum Geländer. Sie war viel zu weit nach hinten gebeugt. Monk hatte schon einen Warnschrei auf den Lippen. Noch ein paar Zentimeter, und sie stürzte ab!
    Orme starrte nun auch hinauf.
    Der Mann zerrte weiter an der Frau. Sie riss sich los, schien das Gleichgewicht zu verlieren, und er machte einen Satz auf sie zu. Eng aneinandergedrückt wankten sie einen schrecklichen Moment lang, dann kippte sie nach hinten. Er machte einen verzweifelten Versuch, sie festzuhalten. Sie streckte die Hand aus und griff nach ihm. Zu spät. Beide stürzten über die Brüstung und fielen in aberwitzigen Spiralen wie ein riesiger Vogel mit gebrochenem Flügel in die Tiefe. Dann schlugen sie auf den wirbelnden schmutzigen Fluten auf, die sie noch eine Weile trugen. Sie versuchten nicht zu kämpfen, während sich ihre Kleider mit Wasser vollsogen und sie nach unten zogen.
    Angetrieben von Ormes Befehlen, verdoppelten die Ruderer ihre Anstrengungen und stemmten sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Strömung. Das Boot schoss nach vorne.
    Monk starrte angestrengt in die Richtung der Opfer, um sie in der Dunkelheit nicht aus den Augen zu verlieren. Sie waren keine hundert Meter von ihnen entfernt, und doch war ihm bereits klar, dass es zu spät war. Die Wucht des Aufpralls auf dem Wasser musste ihnen alle Luft aus den Lungen gepresst haben. Und sobald sie keuchend eingeatmet hatten, hatten sie unweigerlich das eiskalte Schmutzwasser in die Lungen gesogen, an dem sie mit Sicherheit erstickt waren. So sinnlos es war, beugte er sich dennoch weiter vor und schrie: »Schneller, schneller! Dort! Nein … dort!«
    Das Boot erreichte die beiden und drehte bei. Die Ruderer hielten es gegen die Strömung ruhig und bewahrten es durch Gewichtsverlagerung vor dem Kentern, als Monk sich über die Frau beugte, sie über das Dollbord zerrte und so behutsam er konnte auf die Planken bettete. Das andere Opfer konnte er noch sehen, aber es war außer Reichweite. Wenn er sich jetzt vorbeugte, würde er das ganze Boot in Gefahr bringen. »Backbord«, befahl er, obwohl die Ruderer das Boot schon näher heranmanövrierten. Vorsichtig griff er nach dem halb versunkenen jungen Mann, dessen Mantel im Wasser trieb, während ihn die schweren Stiefel in die Tiefe zogen. Unter Aufbietung aller Kräfte hievte Monk auch ihn an Bord und legte ihn neben die junge Frau. Er hatte schon viele Tote gesehen, doch stets überkam ihn ein unvermindertes Gefühl von Verlust. Er nahm das vom Schmutz im Flusswasser total verschmierte, bleiche Gesicht näher in Augenschein. Der Tote, den er auf etwa dreißig schätzte, hatte einen Schnurrbart, war aber ansonsten glatt rasiert. Seine Kleider waren gut geschnitten und von feinster Qualität. Der Hut, den er auf der Brücke getragen hatte, war verschwunden.
    Orme sah zu Monk und dem jungen Mann hin. Er war aufgestanden und wahrte in dem schwankenden Boot mühelos
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