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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
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stehendes Haus, ein renovierter Altbau aus den zwanziger Jahren, eigentlich zu groß für die kleine Familie; aber Richard hatte das Haus schon vor Jahren sehr günstig als Kapitalanlage gekauft.
    Er war bis auf die Haut durchnäßt, als er, vom Taxi durch den Vorgarten laufend, das Haus erreichte.
    Mit klammen Fingern schloß er die Tür auf. Leer und still, unheimlich fast im Sturm und Regen, gähnte ihn das Haus an.
    Er ging sofort nach oben, ins Schlafzimmer. Im Dunkeln kleidete er sich aus, legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen. Er schloß die Augen, und im gleichen Moment sah er Hilde vor sich, ihr Gesicht, ihre weit aufgerissenen Augen unter der Lampe im Hinterzimmer des oberbayerischen Gasthofes.
    »Ich muß dir etwas sagen, Richard, etwas sehr Wichtiges –« Gertner drehte sich auf die andere Seite. Schlafen. Ich muß jetzt schlafen.
    Aber da war nur Hildes Gesicht, ihre blanken, schreckerfüllten Augen und ihr verzerrter Mund.
    »Es ist wegen Sabine – Sabine ist nicht – Sabine ist nicht –«
    Er richtete sich halb auf, tastete mit zitternder Hand nach seinen Zigaretten auf dem Nachttisch.
    Er riß ein Streichholz an, aber es brach ab. Das zweite zündete.
    Er sog den Rauch tief ein. Auf nackten Füßen ging er zum Fenster, zog die Vorhänge zurück. Sehen konnte er nichts, weil der Regen in dichten Schwaden gegen die Scheiben wehte.
    Was war mit Sabine?
    Eine nie gekannte Angst erfüllte ihn.
    Was war mit seiner Tochter?
    Hilde hatte Angst gehabt; sie glaubte zu sterben und hatte versucht, ihm etwas mitzuteilen, was sie nicht mit ins Grab nehmen wollte.
    Ein Geheimnis um Sabine, seine Tochter, sein einziges Kind.
    Plötzlich schmeckte die Zigarette nicht mehr. Der Rauch schnürte ihm die Kehle zu. Er drückte den Stummel der Zigarette in der Rinne der hölzernen Fensterbank aus, in der fingerbreit Regenwasser stand.
    Er ließ die Vorhänge wieder zufallen, ging zum Bett zurück. Er nahm zwei von den Schlaftabletten, die man ihm in der Klinik gegeben hatte.
    Noch eine Weile spürte er das laute Schlagen seines Herzens. Dann endlich schlief er ein.
    Schon am frühen Nachmittag des nächsten Tages durfte Richard Gertner – wenn auch nur für Minuten – seine Frau sehen.
    Richard erschien in der Klinik mit einem großen Strauß roter und gelber Rosen. Er war blaß, kaum ausgeschlafen, noch immer erschüttert von dem Unfall, noch im Zweifel über den Zustand seiner Frau.
    Die beruhigenden Worte der Assistenzärztin, die ihn zu Hilde führte, verfehlten jedoch nicht ihre Wirkung. Als er schließlich am Bett seiner Frau saß und sah, daß sie zwar noch schwach, aber offenbar auf dem Wege der Besserung war, erfüllte ihn ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, das alle Zweifel, alle grüblerischen Gedanken, die er in der Nacht gehabt hatte, wegfegte.
    Professor Wiegand hatte noch nicht nach seiner Patientin gesehen. Das war merkwürdig, denn sonst überzeugte er sich selbst wenige Stunden nach der Operation vom Zustand seiner Patienten, vor allem, wenn sie auf seiner Privatstation lagen.
    Richard hielt Hildes Hand und drückte sie fest. »Es ist alles gut, Hildekind«, sagte er und nannte sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so.
    Sie lächelte. Ihre Augen unter dem dicken weißen Verband leuchteten auf. Aber etwas Scheues blieb in ihrem Blick, so, als fürchte sie, daß er irgend etwas fragen könnte, auf das sie keine Antwort wüßte.
    »Ich habe dir wieder mal Kummer gemacht«, sagte sie.
    »Aber Hilde! Du hast uns doch keinen Kummer gemacht! Keiner von uns konnte etwas dafür.«
    »Als ich wach wurde, heute morgen, da hab' ich nachgedacht. Und ich habe gedacht, wenn ich dich nicht gebeten hätte, die Zigarette anzuzünden, im Fahren –«
    »Unsinn! Der Tankwagen hat die Kurve geschnitten, da konnte ich gar nichts tun – ob ich nun gerade dabei war, dir eine Zigarette anzuzünden oder nicht.«
    »Wie geht es Sabine?«
    »Sie schläft immer noch. Man hat ihre starke Beruhigungsspritzen gegeben, weil sie noch unter Schock steht. Sie liegt gleich nebenan. Wenn es dir etwas besser geht, will man sie in dein Zimmer legen.«
    Hilde entzog ihm ihre Hand. »Das ist – nicht nötig.«
    »Aber Hilde! Du willst doch deine Tochter bei dir haben, oder nicht?«
    Sie sah ihn nicht an. Röte stieg in ihre Wangen. »Sicher«, murmelte sie, »ich will nur keine Umstände.«
    Jäh flackerte sein Mißtrauen wieder auf. Aber er wagte es nicht zu fragen.
    »Du, ich bin müde«, sagte Hilde und lächelte,
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