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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
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Ruinen von München. Ein Haufen Schutt, in dem die Ratten wühlten – die tierischen und die menschlichen Ratten.
    Er war sich selbst wie eine Ratte vorgekommen. Er hatte Alexa sitzenlassen, nachts auf dem Bahnhof von Oldenburg.
    Nach der Flucht mit der ›Schill‹ waren sie dort gestrandet, Alexa und er – ohne das Kind. Das Kind hieß jetzt Sabine Gertner. Es war nicht mehr sein Kind, nicht mehr das Kind von Alexa.
    Eine Weile schlugen sie sich gemeinsam durch, dann verschwand er eines Nachts auf einem Zug voller Rüben, der nach Süden fuhr. Und landete in München.
    Blauer Julihimmel des Jahres '45.
    Sie brauchten einen Arzt im Johannis-Hospital.
    Karger Lohn, karge Kost. Aber ein Unterschlupf.
    Doch immer die Angst, daß Alexa auftauchen könnte. Oder ihr Mann, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Der Hauptmann Reinhard Berglund. Angst. Quälende Angst …
    Und dann der Paracelsus-Abend.
    Er im geliehenen Frack, der ihm viel zu weit war.
    Gesellschaft – was sich damals wieder zur Gesellschaft mauserte. Die ersten fetten Brote nach den Hungerjahren. Gänsebrust und Katenschinken.
    Irene von Bodenheim. Sie stand vor ihm, er wurde bekannt gemacht mit ihr. Er starrte sie an. Nein, das war nichts für ihn. Niemals.
    Sie lachte, hängte sich an seinen Arm, war amüsiert über seine Verstörtheit. Sie stellte ihn ihrem Vater vor. Der Baron von Bodenheim hatte schon immer einen Blick für Erfolgsmenschen. Er sah: Hier war einer, der nach oben wollte, der kämpfen konnte; wenn es sein mußte, ohne Skrupel. Der würde es schaffen.
    Am Abend nahm er seine Tochter zur Seite. Redete ihr zu.
    Drei Tage später ging sie mit Wiegand ins Bett.
    Vier Wochen später war Wiegand der Chef der St.-Peters-Klinik. Acht Wochen darauf heiratete er Irene von Bodenheim in der alten Barockkirche St. Ignaz.
    Das Geld der Bodenheims … Ihr Einfluß … Das bedeutete: Zeit für Forschung. Zeit für alles. Eine Frau – wie keine auf der Welt. Wohlstand, Ansehen, Würde.
    Die Chance eins zu einer Million – er hatte sie gefunden. Das große Los gezogen …
    Professor Wiegand begann zu lachen. Jetzt, heute, im Englischen Garten. Er lachte so laut, daß sich der Parkwächter umdrehte, näher kam.
    Dann erkannte er den stadtrenommierten Mann.
    »Grüß Gott, Herr Professor!« Er tippte an seine Mütze, ging schnell weiter.
    Wiegand erhob sich von der Bank. Er wußte nicht, wie er dorthin gekommen war.
    Ich muß mit ihr sprechen, dachte er. Ich muß mit Hilde Gertner sprechen. Der einzigen Zeugin.
    Wenn ich daran denke, daß mein Verhältnis mit Alexa herauskommen würde: ein Arzt mit seiner Patientin! Im Krieg, während der Mann an der Front war.
    Skandal. Verlust der Standesehre. Auch heute noch. Erst recht heute wieder.
    Drei Tage nach der Operation besuchte Professor Wiegand zum ersten Mal seine Patientin Hilde Gertner. Es war am Nachmittag, und er kam allein.
    Leise schloß er die Tür des Krankenzimmers hinter sich. Hilde lag mit geschlossenen Augen da, und Wiegand glaubte, sie schlafe. Aber in diesem Augenblick schlug sie die Augen auf, wandte den Kopf. Ein zögerndes Lächeln schob sich um ihre Lippen.
    »Ich bin Professor Wiegand«, sagte er.
    »Sie haben mir das Leben gerettet, Herr Professor.«
    »Aber, davon kann gar nicht die Rede sein. Eine nicht einfache Operation, gewiß, aber akute Lebensgefahr bestand nicht.«
    »Ich kann mich kaum an den Unfall erinnern«, sagte Hilde, während Wiegand einen Stuhl heranzog und sich an ihr Bett setzte. »Ich kann mich nur erinnern, daß ich von wirren Träumen geplagt worden bin …«
    »So?« fragte Wiegand zögernd.
    Sie blickte ihn zweifelnd an. »Ich träumte sogar, daß wir uns kennen, Sie und ich, Herr Professor, und dabei weiß ich, daß es nicht so ist.« Sie sah ihn jetzt voll an. »Oder haben wir uns damals gesehen, auf der Flucht? Waren Sie es?«
    Er tastete nach ihrem Puls. »Sie dürfen sich nicht aufregen«, sagte er flach und erhob sich, »ich werde die Schwester zu Ihnen schicken. Sie brauchen ein Beruhigungsmittel.«
    Sie klammerte sich an seine Hand. »Sagen Sie mir doch, daß es nicht wahr ist. Die Vergangenheit, diese Last.« Sie weinte jetzt.
    »Sie sind verwirrt. Der Schock des Unfalls wirkt nach.« Er flüchtete aus dem Zimmer.
    Draußen spürte er, wie sich sein Magen zusammenzog. Sie hatte es also nicht vergessen, hatte ihn nicht vergessen. Sie war noch im Zweifel, natürlich. Aber diese Zweifel würden ihr, wie er die Frauen kannte, keine Ruhe lassen. Über
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