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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
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was ihr Vater von ihr wollte. »Deine Mutter ist in der Gastwirtschaft, in der wir nach dem Unfall untergebracht waren, für kurze Zeit zu Bewußtsein gekommen. Sie hat mir erklärt, daß sie mir etwas Wichtiges sagen müsse – über dich!«
    Er trat ans Fenster, starrte in den verregneten Garten hinunter, aus dem die Schatten eines frühen Herbstabends hochstiegen.
    »Ich kann mich an den genauen Wortlaut erinnern, weil es mir sehr wichtig erschien. Sie sagte: ›Richard, bevor ich sterbe, sollst du etwas wissen. Es ist sehr wichtig. Es geht um Sabine.‹ Und sie sagte noch: ›Sabine ist nicht –‹, dann wurde sie wieder bewußtlos.«
    Richard schwieg. Es war sehr still im Zimmer. Sabine hatte sich tief in den großen Lehnsessel verkrochen. Sie sah ihren Vater verständnislos an.
    »Was hat deine Mutter gemeint?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du hast nicht die geringste Ahnung, wie?«
    Das Mißtrauen in seiner Stimme erschreckte Sabine mehr als alles, was ihre Mutter gesagt oder angedeutet hatte. »Vielleicht hat sie nur im Fieber gesprochen?«
    »Nein, sie war völlig klar.« Sein Gesicht war jetzt ganz hart. »Ich will dir etwas sagen, mein Fräulein, wenn du mit Dingen hinter dem Berg hältst, von denen ich keine Ahnung habe, die ich aber wissen sollte …« Er kam auf sie zu, hob die Hand.
    »Aber Paps, bitte. Ich weiß wirklich nicht, was Mutti gemeint haben könnte. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ich schwöre es dir!«
    »Ist da – eine Männergeschichte?« fragte er heiser.
    »Nein!« sagte Sabine.
    Ihr Vater wandte sich ab. »Ja, aber …« Seine Worte verloren sich. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, ging zum Fenster zurück.
    »Hast du sie denn nicht selbst noch einmal darauf angesprochen?« fragte Sabine leise.
    »Sie sagt, sie könne sich an nichts erinnern.«
    Plötzlich spürte Sabine, wie sich in ihrem Inneren alles zusammenzog. Sie sprang auf, lief zu ihrem Vater hin, umarmte ihn. »Vati«, flüsterte sie, »ich habe Angst.«
    Er schluckte, streichelte stumm ihren Rücken. Ich auch, dachte er, ich auch, Sabine.
    3
    Nacht. Wenn man nicht schlafen kann, kommen die Gedanken. Dann steigen aus den Nebelgründen der Erinnerung die Dinge auf, die man vergessen möchte, aber niemals vergessen kann.
    Hilde lauschte auf die Geräusche des nächtlichen Krankenhauses. Deutlich hörte sie die Schreie einer Gebärenden aus dem Kreißsaal. Deutlich hörte sie in der Ferne das Sirenengeheul eines Unfallwagens, das erst abschwoll, als das Fahrzeug sich dem Krankenhaus näherte. Deutlich hörte sie auch das Schlagen ihres eigenen Herzens.
    Die Schmerzen in ihrem Kopf hatten nachgelassen. Der Druck war bereits vor einigen Tagen gewichen. Sie fühlte sich nicht schlecht, aber sie hatte Angst davor, entlassen zu werden. Sie wollte nicht nach Hause, wollte nicht den Schutz verlassen, den dieses Krankenzimmer ihr bot, den Schutz vor fragenden Blicken und fragenden Worten, vor dem suchenden, tastenden Satz, der ihr das Geheimnis zu entlocken versuchte.
    Sie biß sich auf die Lippen. Wie hatte sie nur in der Unfallnacht davon sprechen können!
    Sie war in Panik gewesen, hatte voller Angst geglaubt, sie müsse sterben, und da wollte sie Richard –
    Was hatte sie gewollt? Hatte sie ihm wirklich die Wahrheit sagen, ihm wirklich diesen Schmerz zufügen wollen?
    Konnte sie ihm ins Gesicht sagen: Sabine ist nicht deine Tochter – ohne sein Leben zu zerstören? Ihm, der so an ihr hing? Und zu Sabine: Er ist nicht dein Vater – zu ihr, die ihn so liebte?
    Schweiß trat auf ihre Stirn, näßte den Verband, den sie immer noch trug.
    Nein, das konnte sie nicht. Sie war kurz davor gewesen, sich zu verraten. Erst in letzter Sekunde war sie sich der Gefahr bewußt geworden und hatte eine neue Ohnmacht vorgetäuscht.
    Doch das war nicht das Schlimmste. Sie konnte sich Richard gegenüber immer mit Fieberphantasien herausreden. Das Schlimmste war, daß sie Wiegand wiedergetroffen hatte, den Vater des Kindes.
    Sie hatte weder ihn noch Alexa, die Mutter Sabines, nach jenen schrecklichen drei Tagen auf der eisigen Ostsee je wiedergesehen. Vielleicht lebte Alexa gar nicht mehr.
    Hilde hatte nie mehr an Wiegand gedacht, hatte den Namen auch längst vergessen gehabt. Sie hätte den berühmten Professor, über den sie oft genug in den Zeitungen lesen konnte, nie in Verbindung gebracht mit dem von Panik erfüllten Assistenzarzt auf der ›Schill‹, der mit einer verheirateten Offiziersfrau ein außereheliches Kind
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