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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
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blickten ihn die Augen seiner Operationshelfer abwartend an.
    Er setzte das Skalpell an und öffnete mit einem geschickten Schnitt die Kopfhaut. Und von diesem Augenblick an war er nur noch Arzt, nichts anderes mehr. Von diesem Augenblick an war die Frau, die vor ihm lag, nur noch eine Patientin, war sie ein Fall.
    Der langsamer werdende Druckpuls, die Prüfung der Reflexe und das sofort gemachte EEG hatten keinen Zweifel an Wiegands erster Diagnose gelassen: eine Blutung im Gehirn. Die Trepanation, die Eröffnung der Schädeldecke, bestätigte dies. Vorne rechts, im Bereich des Stirnhirns, saß ein fast faustgroßer Bluterguß, der auf das Gehirn drückte.
    Geschickt wurde die Blutung mit Sauger und Tupfer entfernt, das blutende Gefäß abgeklemmt.
    Kein Laie, der zugeschaut hätte, wäre sich bei der Sicherheit, mit der Wiegand operierte, der Gefährlichkeit dieser Operation bewußt gewesen; seine Gelassenheit war faszinierend.
    Das Wort des Narkosearztes brach schließlich den Bann. »Puls ansteigend, normalisierend.«
    Die Operation war geglückt.
    Matthias Wiegand schloß für eine Sekunde die Augen, dann machte er weiter. Nach einer Stunde war die Nacharbeit beendet, die letzte Naht an der Kopfhaut gelegt.
    Wiegand richtete sich auf. Er wandte sich wortlos um, ging zum Waschbecken. Er zog sich die Maske vom Gesicht, riß sich die Gummihandschuhe ab, warf sie in den Eimer. Er ließ sich von einer Assistentin aus dem blutbefleckten Mantel helfen, stieß die Tür zum Nebenraum auf, war dann auf dem Flur. Noch im Gehen zündete er sich eine Zigarette an.
    In seinem Zimmer saß Irene, die Beine übereinandergeschlagen, noch immer im Jagdanzug, blätterte in einem medizinischen Magazin.
    Sie blickte auf, als er eintrat. »Wie sieht es aus?« fragte sie.
    »Ich glaube, die Frau kommt durch.«
    »Gott sei Dank«, sagte sie und trat dicht an ihn heran. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. In ihren Augen war jetzt nichts anderes als die Bewunderung, die sie ihm auch schon damals gezeigt hatte, als er ihr zum erstenmal begegnet war.
    Wiegand wandte seinen Blick ab. Er dachte, nur ein Schnitt von einem Millimeter hätte genügt, und Hilde Gertner wäre nicht gerettet worden. Ein Schnitt von einem Millimeter hätte genügt, und der Mund, der mich vielleicht verraten wird, wäre für immer verstummt.
    »Du bist sehr blaß«, sagte Irene und berührte seine Wange.
    »Ich bin müde.«
    »Wegen heute nachmittag – auf der Jagd, ich wollte dir nicht weh tun«, sagte sie leise. »Ich wollte den Hirsch nicht schießen. Er gehörte dir, das wußte ich, aber plötzlich konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Er sprang auf den Waldrand zu, und ich dachte, er würde entkommen, und da habe ich geschossen.«
    Sie konnte wie ein Kind sein, sie konnte einen verletzen, mit der unbedachten Grausamkeit eines Kindes, und nachher angelaufen kommen, um wortreich um Verzeihung zu bitten.
    »Es ist längst vergessen«, sagte er.
    »Ich wußte, daß du es mir nicht nachtragen würdest. So, und jetzt komm, wir fahren nach Hause.«
    Die Dunkelheit der nächtlichen Straßen tat ihm wohl. Der Regen prasselte wie Hagel herunter, die Scheibenwischer kämpften unermüdlich dagegen an.
    Irene fuhr ruhig und konzentriert, wie immer. Schon nach einer Viertelstunde waren sie trotz des schlechten Wetters in ihrem Heim in München-Harlaching angelangt.
    Sie gingen sofort zu Bett. Sie kam zu ihm, ohne ein Wort, stumm schmiegte sie sich in seine Arme.
    Er nahm sie mit einer Wildheit, die sie zuerst zurückschrecken, dann aber um so leidenschaftlicher zu ihm kommen ließ.
    Er kämpfte um ihren Leib, als hätte er ihn noch nie besessen.
    Nicht mehr daran denken, nicht an das, was damals geschah, in der wogenden See.
    Nur an sie, an Irene, sein Leben, seine Zukunft, seine Existenz.
    Richard Gertner war nach eingehender Untersuchung und ambulanter Behandlung seiner oberflächlichen Schnitt- und Prellwunden in ein Wartezimmer geführt worden. Dort überbrachte man ihm nach ein Uhr die Nachricht, daß seine Frau die Operation gut überstanden habe und daß seine Tochter fest schlafe. Ihm wurde erlaubt, am nächsten Tag wiederzukommen, um seine Familie zu besuchen.
    Ein Assistenzarzt, der um diese Zeit nach Hause fuhr, nahm ihn bis zum nächsten Taxistand mit. Immer noch rauschte der Regen herunter, als sei eine neue Sintflut im Anzug.
    Gegen zwei Uhr war Gertner schließlich zu Hause, in der Lärchenstraße in Schwabing. Es war ein frei in einem Garten
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