Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
Vom Netzwerk:
des Mannes und der Frau.
    »Sie haben den größten und bequemsten Wagen«, sagte Wiegand zu seinem Jagdfreund Arlberg. »Wir schaffen zuerst die Frau ins Gasthaus.«
    »Aber das Blut«, murmelte Arlberg. Die Umstehenden sahen ihn an. Er begann zu stottern. »Verzeihung … Ich meine, das ist mir nur so rausgefahren … Selbstverständlich.«
    »Holen Sie Ihren Wagen näher ran«, sagte Irene scharf.
    Die anderen Männer hatten inzwischen aus ihren Lodenmänteln und Ästen eine Trage gemacht. Vorsichtig hoben sie die Verletzte an, brachten sie zur Straße.
    Einen Moment lang erhellte der flackernde Widerschein des Feuers ihr Gesicht. Wiegand zuckte überrascht zusammen. Woher kannte er dieses Gesicht? Aber noch ehe die Erinnerung dem Bild einer längst vergessen geglaubten Vergangenheit scharfe Konturen geben konnte, hatten die Schatten der Nacht die wie leblosen Züge der Frau wieder verwischt.
    In der Gaststube Zur Sonne telefonierte Wiegand nach der Ambulanz. Die anderen Männer der Jagdgesellschaft standen herum, hilflos, noch erregt von dem schrecklichen Erlebnis, miteinander flüsternd.
    Irene Wiegand saß in dem Sessel unter dem Fenster, die langen Beine in den schmalen Gabardinehosen übereinandergeschlagen, und rauchte. Mit ihrer rechten Hand kraulte sie den roten Setter an ihren Knien. Sie wirkte unbeteiligt, kühl, wie immer. Und doch hatte sie fester zugepackt als die meisten der Anwesenden, hatte den klareren Kopf bewahrt. Mit nachdenklich geschlitzten Augen blickte sie zu ihrem Mann hinüber, niemand hätte sagen können, was sie dachte.
    Wiegand warf wütend den Hörer auf. »Alles gesperrt«, sagte er. »Hochwasser durch den Regen. Die Straße bei Gremmingen ist überspült.«
    Er ging in das Hinterzimmer, wo man die Verunglückten auf schnell herbeigeschaffte Matratzen gebettet hatte. Der Wirt hatte das Licht der altmodischen Hängelampe mit einer Zeitung abgeschirmt, damit es nicht grell auf die Gesichter fiel. Wiegand schloß leise die Tür hinter sich und schnitt damit das Stimmengemurmel aus der Gaststube ab.
    Er beugte sich über den Mann. Sein Gesicht hatte wieder Farbe angenommen. Er atmete ruhig und tief. Wiegand prüfte den Puls. Er war jetzt regelmäßig. Das Kreislaufmittel tat seine Wirkung.
    Als nächstes trat er zu dem Mädchen. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf bewegte sich unruhig hin und her. Sie murmelte Unverständliches. Ihr hatte Wiegand eine starke Beruhigungsspritze gegeben, das einzige, was er im Augenblick für sie tun konnte. Er mußte ihr vor allem helfen, den Schock zu überwinden, der schlimmer war als die Verletzungen – ein paar Schnittwunden an den Oberschenkeln, eine Quetschung der rechten Schulter.
    Aber die Frau – ihr Zustand war kritisch. Der heftige Druckpuls, die Färbung des Gesichts, die Art der Atmung deuteten auf eine Gehirnblutung. Eine Trepanation würde schon bald notwendig sein.
    Wiegand nahm die Zeitung von der Hängelampe und leuchtete der Frau voll ins Gesicht. Sie war vielleicht um die Vierzig. Man hatte bei den Frauen keine Papiere gefunden. Die Handtaschen waren wahrscheinlich aus dem Wagen geschleudert worden und lagen noch irgendwo im Gebüsch.
    Vermutlich waren die Verunglückten Mann, Frau und Tochter. Der Ausweis des Mannes, der sich in seiner Jackettasche befunden hatte, lautete auf den Namen Richard Gertner. Er war Ingenieur, aus München.
    Wiegand betrachtete nachdenklich die Frau. Irgendwo aus den Tiefen seiner Erinnerung tauchten Fetzen wirrer Bilder auf, verzerrte Gesichter, weit aufgerissene, schreiende Münder, flatternde Kopftücher, Sturm, treibender Schnee.
    Mit einem Ruck richtete Wiegand sich auf. Er ließ die Hängelampe los, daß sie zurückschwang, flackernde Schatten über die Wände des Zimmers warf, was die Erinnerung nur noch schärfer zurückholte: ein Schiff – schwankender Boden unter den Füßen, schnappender Faustschlag der Brecher gegen die ächzende Bootswand.
    Wiegand spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, starrte wieder in das Gesicht der Frau, hoffte, sich zu täuschen, und wußte doch, daß sie es war. Er ging schnell hinaus – und wußte, daß er floh.
    Richard Gertner erwachte mit einem Entsetzen, das ihn halb von der Lagerstatt hochriß. Er sah ein von einer Hängelampe erhelltes Zimmer, gescheuerte Kneipentische, an die Wand gerückte Stühle, Starkbier-Plakate, auf dem Boden …
    »Hilde!«
    Seine Frau lag auf einer Matratze in der Nähe des Fensters.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher