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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
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Dorfbewohner weg, mischten sich nicht ein.
    Tag für Tag musste Ellen gespürt haben, wie sich ihr Körper zusehends veränderte, wie das Kind in ihrem Leib wuchs und stärker wurde. Ich stellte mir vor, wie sie, wenn sie nachts im Bett lag, die Hände auf den Bauch gelegt und die winzigen Tritte gespürt hatte. Vielleicht hatte sie mit dem Baby gesprochen, ihm sogar vorgesungen, hatte sie dem werdenden Kind in ihrem Leib versprochen, dass es geliebt und geschätzt werden würde wie kein anderes.
    Ihre Schwangerschaft zu verbergen fiel ihr nicht allzu schwer. Sie verließ nur noch selten das Haus, sah kaum jemanden, abgesehen von ihrem Vater. Außerdem wurde es allmählich Winter, und sie konnte weite Pullover und einen Mantel von ihrem Vater tragen. Wahrscheinlich gab sie sich selbst die Schuld für ihre Lage. Sie hatte sich verändert, war nicht mehr das Mädchen, das immer im Mittelpunkt stehen wollte, fühlte sich nicht mehr als Heldin in einem Drama. Sie war nicht mehr sie selbst, sie war zerbrochen.
    Seltsamerweise hatte ihre Verzweiflungstat, die Zerstörung des Flügels, zwischen Ellen und ihrem Vater eine Art gegenseitiges Verständnis bewirkt. Sie kämpfte nicht mehr gegen ihn, und er hörte auf, sie zu tyrannisieren. Er akzeptierte ihren Racheakt, weil er ihn verstand. Es half ihm sogar, endlich Annes Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Vater und Tochter quälten sich nicht mehr, sie ließen einander in Frieden.
    Ellen glaubte immer noch an Jago. Sie glaubte, dass er zu ihr zurückkehren würde. Dass sie nur zu warten bräuchte. Sie dachte, dass er ihr früher oder später verzeihen würde und dass, wenn er dann da wäre und die Wahrheit erfuhr, alles gut würde und sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage zusammenleben würden. Sie wusste ja nichts von all dem, was ich zu ihm gesagt hatte. Sie wusste nicht, dass ich seinen Glauben an sie zunichte gemacht hatte. Stattdessen klammerte sie sich an ihre Hoffnung, ihr Vertrauen und daran, dass Jago sie liebte.
    Aber er kam nicht zurück.
    Schließlich schrieb Ellen in ihrer Verzweiflung an Tante Karla. Ihre Schwangerschaft erwähnte sie nicht, teilte ihr aber mit, dass sie dringend ihre Hilfe benötige. Karla, die noch ein paar dringende Angelegenheiten erledigen musste, buchte, sobald es ihr möglich war, einen Flug nach London.
    Und kam zu spät.
    Ellen musste gespürt haben, dass es nicht mehr lange dauern würde. Ihr Instinkt musste ihr gesagt haben, dass das Kind zu früh zur Welt kommen würde.
    Eines Abends, als ihr Vater schlief, zog sie mehrere Schichten Pullover und darüber ihren Mantel an, schlüpfte in ihre Winterstiefel und verließ Thornfield House. Es war Spätherbst, und sie war im späten siebten Monat. Sie hätte in den Ort gehen und jemanden um Hilfe bitten können, aber das tat sie nicht. Sie hatte keine Freunde und kannte kaum jemanden, und der Gedanke, jemand Fremdem ihre Lage zu schildern und ihn um Hilfe zu bitten, war ihr unerträglich. Vielleicht war Ellen zu diesem Zeitpunkt so erschöpft von ihren Lebensumständen, so verzweifelt, dass sie nicht mehr klar denken konnte, und verließ sich ganz auf ihren Instinkt, wie ein Tier.
    Sie begab sich an den Ort, wo sie glücklich gewesen war und sich sicher fühlte.
    Ganz allein ging sie den beschwerlichen Weg über die winterkahlen Felder und Weiden, überquerte die sumpfige Heide und den Küstenweg und begab sich hinab zu dem Kliff. Sie schlitterte über den Geröllabschnitt vor dem Einstieg zu unserer Felsspalte, fand ihn und kletterte die in den Felstunnel gehauenen Stufen hinab. Es musste schrecklich kalt gewesen sein in jener Nacht. Bestimmt war der Himmel über ihr schwarz und bedrohlich weit, und das Geräusch des Meeres und der Wind waren Ellens einzige Begleiter. Sie fand das kleine Zweimannzelt, das ich einige Monate zuvor für sie dort hingeschafft hatte. Im Schutz der Höhle baute sie es im Sand auf und sicherte die Haken mit großen Steinen. Drinnen bereitete sie ein weiches Lager aus Decken, dem Schlafsack, ihren Pullovern, dem Mantel und Handtüchern. Dann machte sie ein Feuer und setzte sich unter den Sternenhimmel und lauschte dem Rhythmus der Wellen, die ans Ufer spülten.
    Sie wartete.
    Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es für Ellen gewesen war, allein am Strand, allein in der Nacht. Selbst wenn sie keine Angst vor dem Meer oder dem Himmel oder irgendwelchen Tieren gehabt hatte, so doch sicher vor dem, was ihr bevorstand. Vielleicht schrie sie vor Schmerzen, als die Wehen
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