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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
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Flughafen.«
    Ellen kaute auf ihrer Unterlippe. Falls sie neidisch auf mich war, weil ich jetzt frei war, ein neuer Lebensabschnitt für mich begann und ich die Gelegenheit hatte, die Welt zu entdecken, ließ sie sich nichts anmerken.
    Stattdessen sagte sie: »Du wirst eine wunderbare Zeit haben. Ich bin so stolz auf dich. Ich wusste, dass du einen Weg finden würdest, von hier wegzukommen.«
    »Ellen …«
    Sie hielt den Zeigefinger an die Lippen und hob den Blick zur Decke. »Ich lege rasch Musik auf«, sagte sie, »dann können wir uns ungestört unterhalten, ohne dass er uns hören kann.«
    Sie ging zur Stereoanlage, hockte sich auf die Fersen, wählte eine Platte aus, nahm sie aus der Hülle und legte sie auf den Plattenteller. Ich sah zu, wie sie den Einschaltknopf drückte, der Tonarm über die Platte schwenkte und sich herabsenkte. Es war ein Rolling-Stones-Album. Der erste Titel lautete: Have You Seen Your Mother, Baby. Ellen drehte die Lautstärke auf. Sie nickte im Takt der Musik und begann, barfuß durchs Zimmer zu tanzen. Wie ein Derwisch wirbelte sie durch den Salon und warf das Haar herum. Ich dagegen blieb unbeweglich stehen und betrachtete meine Fingernägel, während Ellen um mich herum tanzte. Sie nahm mich bei den Händen und wollte mich dazu bewegen, mit ihr zu tanzen, aber ich konnte nicht.
    »Komm schon!«, rief sie. »Spielverderber! Mit wem soll ich tanzen, wenn du in Südamerika bist?«
    Als sie sah, dass es zwecklos war, ließ sie meine Hände los. Der Song war zu Ende, und die Platte knisterte kurz, ehe der nächste einsetzte. Paint it Black.
    Ellen keuchte. Ihre Wangen waren gerötet, und ihr Haar klebte ihr an der Stirn. Sie zog das Sweatshirt aus. Einen Augenblick lang verschwand ihr Kopf darin, und als sie wieder hervortauchte, rutschte ihr Top nach oben, und ich konnte ihren BH sehen. Er sah schmuddelig grau aus und war zu klein für ihre Brüste. Der Anblick machte mich traurig.
    »Wie geht es Jago?«, fragte sie und zog das Top wieder herunter. »Ist alles in Ordnung mit ihm? Oder ist er am Boden zerstört, weil aus unserer Flucht an meinem Geburtstag nichts geworden ist? Hat er jetzt einen anderen Plan? Ich glaube nämlich, wir sollten nicht länger warten. Ich glaube …« Sie bückte sich zur Stereoanlage und drehte die Musik noch ein wenig lauter. Dann sagte sie mit gesenkter Stimme direkt an meinem Ohr, sodass ihr warmer Atem mich kitzelte: »Wir sollten so bald wie möglich abhauen. Ich werde nachts aus dem Fenster steigen oder aus dem Haus schlüpfen, wenn Papa oben ist. Dann werde ich mich auf dem Friedhof verstecken, bis die Luft rein ist. Würdest du das Jago bitte sagen?«
    »Ellen …« Mick Jagger sang gerade davon, dass er der Dunkelheit entfliehen wolle, und ich atmete tief ein. »Jago ist fortgegangen.«
    »Fortgegangen? Wohin denn?«, fragte sie. Sie hatte es noch nicht begriffen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Sie konnte genauso wenig verstehen, dass Jago ohne sie weggegangen war, wie wenn ich ihr gesagt hätte, dass die Sonne nie wieder scheinen würde.
    »Er ist weggegangen, Ellen.«
    Sie runzelte die Stirn. »Weggegangen? Wohin? Warum?«
    Ich blickte zur Decke. Betrachtete die Stuckrosette, aus deren Mitte der Kronleuchter herabragte. Die Kristallteile, die Ellen und ich als junge Mädchen poliert hatten, waren angelaufen, und an einem angerissenen Spinnennetz hatte sich Staub gesammelt. Ich lüpfte mit der Schuhspitze den Saum des Läufers. Ellen trat vor mich, und ich konnte ihren säuerlichen Atem riechen.
    »Hannah? Sag es mir! Wo ist Jago?«
    »Ich weiß es nicht. Er ist in der Nacht von deinem Geburtstag verschwunden, und wir haben seither nichts mehr von ihm gehört. Wir wissen nicht, wo er ist.« Ich unterbrach mich. Dann fügte ich mit gesenkter Stimme hinzu: »Ich glaube nicht, dass er zurückkommt.«
    Ellen sah mich eindringlich an. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte ungläubig.
    »Nein«, sagte sie. »Nein. Jago würde niemals ohne mich weggehen. Das würde er nicht tun.«
    »Doch, das hat er«, sagte ich. »Ellen, es tut mir leid, aber es ist wahr.«
    Sie stieß ein nervöses Lachen aus. »Warum? Warum sollte er das tun?«
    Der nächste Song setzte ein.
    Ellens Gesichtsausdruck war so unschuldig, so naiv, so hilflos, dass es mir fast das Herz zerriss – aber dann rief ich mir ins Gedächtnis, dass sie selbst schuld war. Wenn Sie Jago von der Abtreibung erzählt hätte, hätte ich ihn
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