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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
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Gefahr gebannt.« Sie lächelte. »Sie muss Kirstens Vater sehr geliebt haben, wenn sie so weit ging, um ihn zu beschützen.«
    Kirsten zuckte mit den Schultern. »Schade nur, dass er ihr nicht die gleichen Gefühle entgegengebracht hat.« Sie sah mich an. »Er hat sie verlassen, wie du ja bestimmt weißt.«
    »Es war nicht seine Schuld«, sagte ich leise. Bei der Erinnerung daran, was ich getan hatte, dass ich Jago von Ellen weggetrieben hatte, durchlief es mich heiß und kalt. Es war, als prallten einige der Worte, die ich gesagt hatte, die grausamen Dinge, die ich ihm an den Kopf geworfen hatte, mit voller Wucht zu mir zurück. Wieder sah ich sein Gesicht vor mir, sein zwanzigjähriges Gesicht, seine Augen, in denen der Widerstreit tobte, ob er mir glauben sollte oder nicht, nachdem ich ihm gesagt hatte, Ellen liebe ihn nicht, wolle nicht mehr mit ihm zusammen sein und habe sein Kind abgetrieben. Und ich hatte dagestanden und zugesehen, wie sein Vertrauen in sie, in ihre gemeinsame Zukunft, zerbrach, sich auflöste und zerrann. Ich hatte ihn zerstört. Ich hatte ihn in die Flucht getrieben. Es war meine Schuld. Ich war schuldig, nicht er.
    O mein Gott, dachte ich. Was habe ich nur getan!

ZWEIUNDSECHZIG

    J ago ging noch in derselben Nacht fort.
    Er fuhr mit seinem Ford Escort weg, niemand wusste, wohin.
    Meine Eltern waren außer sich vor Sorge. Keiner von uns tat weder in dieser noch in der folgenden Nacht ein Auge zu. Trixie kauerte ängstlich unter meinem Bett.
    Mum und Dad wussten nicht, dass er beschlossen hatte, für immer wegzugehen, aber ich wusste es. Die Wiege war aus dem Schuppen verschwunden, genau wie die Babysachen aus seinem Zimmer. Hinter der Hecke, die das Feld jenseits der Cross Hands Lane begrenzte, fand ich einen Haufen frischer, grauweißer Asche. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie Jago ein Feuer entfachte und die Wiege, die er mit so viel Sorgfalt gezimmert, und die Sachen, die er mit so viel Liebe ausgewählt hatte, in die Flammen warf. Ich sah, wie er sich mit dem Handrücken Ruß und Aschepartikel aus den Augenwinkeln rieb, während alles, was ihn an Ellen erinnerte und seine Hoffnungen auf die Zukunft symbolisierte, von den knisternden Flammen aufgezehrt wurde. Ich konnte sehen, wie sich die rote Feuerglut in den Tränen widerspiegelte, die ihm die Wangen hinabliefen. Jago hielt sich für wertlos, weil er glaubte, dass Ellen so dachte. Er redete sich ein, ein Verlierer zu sein, ein Nichts, ein Niemand.
    Jago hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Meine Eltern waren fassungslos. Sie dachten, dass er vielleicht von einer Klippe gestürzt oder im Meer ertrunken wäre. Ich sagte nur das Allernötigste. Ich kochte Tee für meine Mutter und hielt mir die Ohren zu, um ihr besorgtes Flüstern nicht hören zu müssen, mit dem sie auf meinen Vater einredete, oder ihre Gebete. Dad sprach wenig, aber am Abend nach Jagos Verschwinden begab er sich mit ein paar Münzen in der Jackentasche zu der Telefonzelle auf dem Dorfanger, um die Küstenwache zu verständigen. Anschließend fuhr er mit dem Van weg, ohne uns etwas zu sagen. Mum und ich saßen im Wohnzimmer und hielten uns an den Händen, bleich im Gesicht, übernächtigt und schweigsam. Nur das Ticken der Uhr war zu hören, während der Morgen heraufdämmerte und sich der schwarze Nachthimmel grau verfärbte. Schließlich kam Dad zurück und setzte sich in seinen Sessel. Und zum ersten Mal sah ich ihn weinen, sah, wie sein großer, bärenhafter Körper unter seinen Schluchzern erbebte. Etwas weiter unten an der Küste war eine Leiche ans Ufer gespült worden, erzählte er. Die Leiche eines jungen Mannes. Er schüttelte den Kopf und versuchte, den Tränenfluss mit seinem Taschentuch einzudämmen.
    Dann fuhr Dad zur Leichenhalle.
    Es war nicht Jagos Leichnam.
    Ich dachte, ich könnte meine Eltern in diesem Zustand nicht allein lassen. Wie konnte ich nach Chile reisen, während sie vor Angst um Jago vergingen? Aber sie wollten, dass ich fuhr. Sie wollten nicht, dass ich mir wegen Jago meine Zukunft ruinierte, sagten sie. Dad flehte mich fast an. Da wurde mir klar, dass es für sie ohne mich einfacher wäre. Was immer auch passierte, müssten sie wenigstens nicht auch noch auf mich Rücksicht nehmen. Dann müssten sie nicht so tapfer sein. Könnten zueinander sagen, was ihnen auf dem Herzen lag, ohne jedes Wort auf die Waagschale zu legen. Sie könnten sich ihre Ängste mitteilen.
    Sie waren vollkommen ahnungslos, Mum und Dad. Sie wussten
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