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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus
Autoren: Lesley Turney
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einsetzten, vielleicht aber auch nicht. Niemand war da, der es hätte hören können. Irgendwie stellte ich mir vor, dass Ellen still war. Dass sie ihrem Baby eine friedliche Ankunft auf der Welt bereiten wollte.
    Noch in derselben Nacht kam das Baby zur Welt. Das kleine Mädchen wurde unter dem Mond und den Sternen und umgeben vom Meeresrauschen und der salzigen Brise geboren. Ich stellte mir vor, wie Ellen es in die weichen Baumwolltücher wickelte, die sie mitgebracht hatte. Im silbernen Mondschein sah das winzige, runzlige Gesichtchen wie das einer Fee aus. Das kleine Mädchen blinzelte in der Kälte und nuckelte an ihrer Haut, während es Ellens Brust suchte.
    Ellen wusste, was sie tun musste. Sie hatte sich vorbereitet. Sie hatte Bücher gelesen. Bestimmt war sie schwach und erschöpft, aber vielleicht auch von einem Hochgefühl erfüllt. Vielleicht fühlte sie sich frei. Und glücklich. Endlich hatte sie ganz allein etwas Wundervolles vollbracht, ohne dazu gezwungen worden zu sein, ohne Aussicht auf eine Belohnung. Sie war an einem Ort, den sie liebte, und sie hatte ein Baby, ein lebendiges kleines Wesen aus Fleisch und Blut in ihren Armen. Wahrscheinlich glaubte sie, dass nun alles gut würde. Sie legte das Kind an die Brust, und es begann zu saugen, die Erstmilch seiner Mutter. Es musste so gewesen sein, denn andernfalls hätte es nicht überlebt. Ich weiß nicht, ob Ellen wusste, wie wichtig diese Milch für das Neugeborene war, jedenfalls hatte sie es richtig gemacht.
    Dem Baby ging es gut, Ellen sorgte dafür. Ihr hingegen ging es nicht gut. Denn irgendwann in dieser Nacht oder am nächsten Morgen verblutete sie am Strand.
    Am Nachmittag des folgenden Tages traf Tante Karla in Thornfield House ein. Mr   Brecht war gerade erst aufgestanden und wanderte, noch im Pyjama und rauchend, durchs Haus. Tante Karla erfasste auf Anhieb die Lage. Zuerst dachte sie, Ellen läge krank im Bett. Sie kochte Kaffee und beseitigte das schlimmste Chaos in der Küche, ehe sie mit einem Tablett nach oben ging und an Ellens Tür klopfte.
    Auf dem Kissen hatte Ellen einen Brief mit den nötigsten Informationen für Tante Karla hinterlassen, sodass diese wusste, wo sie nach ihr suchen sollte. Es war früher Abend, kurz vor Sonnenuntergang. Ein böiger, meeresseitiger Wind wehte Wellenschaum an den Strand. Die dürren, zähen Pflanzen, die am Klippenrand wuchsen, duckten sich flach an die Felsen. Möwen kreisten krächzend über dem Meer, und Wolken jagten hoch am Himmel. Tante Karla begab sich allein zu den Klippen. Ellen hatte ihr den Weg ganz genau beschrieben. Als sie den Klippenrand erreichte, blickte sie zu dem einsamen Strand hinab und sah Ellen im nassen Sand liegen, wo sie zusammengebrochen war. Ihr Körper wurde von den heranrollenden Wellen auf- und abgetragen, und es sah aus, als würde sie Tante Karla mit ihrem ausgestreckten Arm herbeiwinken, der sich im Rhythmus der Wellen vor- und zurückbewegte. Das Haar umkränzte ihr Gesicht wie Seegras.
    Offensichtlich hatte sie versucht, sich im Meer zu säubern und sich das Blut abzuwaschen.
    Tante Karla fand den verborgenen Weg zum Strand. Unten angekommen, zog sie Ellens leblosen Körper aus dem Wasser und bettete ihn in den trockenen Sand am Fuß des Kliffs. Da es nicht mehr lange hell sein würde, musste sie sich Tränen und Trauer für später aufsparen. Sie wusste, dass sie ein Stück weit dem Küstenwanderweg folgen musste, um das nächste Notfalltelefon zu erreichen und Hilfe zu holen. Sie musste sich beeilen. Aber zuerst begab sie sich zum Zelt, um einen Schlafsack oder etwas zu holen, mit dem sie Ellen zudecken konnte. Sie zog den Reißverschluss auf und fand im Inneren des Zelts das Baby, warm eingewickelt und auf Ellens weiches Lager gebettet wie ein kleiner Vogel in seinem Nest. Das Neugeborene weinte nicht, sondern beobachtete mit einem Auge, wie sich das orangefarbene Zelttuch im Wind bewegte, während es das andere Auge geschlossen hatte und mit leise schmatzenden Geräuschen an seiner Faust saugte.

FÜNFUNDSECHZIG

    W ährend sich die Nacht auf Magdeburg herabsenkte, zupfte ich an dem Stück Brot, das auf meinem Teller lag. Das Essen war köstlich, aber ich hatte keinen Appetit. Wir saßen auf der Terrasse an dem von Kerzen beschienenen Tisch, während sich Doreen über ihre Gitarre beugte und ihr sanfte Klänge entlockte. Fledermäuse segelten lautlos durch die Nacht, und der Mond stand hoch am Himmel. Der Himmel war weit und wunderschön. Schüsseln mit
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