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Das doppelte Rätsel

Das doppelte Rätsel

Titel: Das doppelte Rätsel
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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Gradgeflecht seitwärts auswanderte. Nach einigen Minuten tönte ein Gongschlag, das Gewicht stieg wieder leicht an, und der Pilot rief: „FR siebzehn fünfhundert Meter querab steuerbord! Schutzbrillen aufsetzen!“
    Dann schob sich außenbords langsam die Blende vor einem der Fenster zurück. Das Bild, das sich der Besatzung bot, würde man unter normalen, irdischen Bedingungen als erschreckend bezeichnen müssen. Aber was heißt im Raum schon normal! Unten ist immer das Triebwerk, oben die Spitze der Rakete. — Vor ihnen jedoch erhob sich, wie eine drohend überhängende, endlose Felswand die zerklüftete Mondoberfläche, grell gleißend mit tiefschwarzen Schatten. Und zwischen ihnen und dem Mond, aufrecht auf ihrem Bremsstrahl stehend, scheinbar unbeweglich die FR 17.
    Sie riefen die FR über die verschiedenen in Frage kommenden Frequenzen des Hör- und Sichtfunks. Ergebnislos. Sie gaben schließlich das Notsignal, das eine optische Verständigung ermöglicht: Eine Natriumdampfwolke wurde in die Antriebsgase geblasen, so daß der Staustrahl intensiv gelb aufleuchtete — wiederum ergebnislos.
    Sie drehten eine Runde um die FR 17 — immer mit dem Sicherheitsabstand von 500 Metern — und beobachteten die Rakete von allen Seiten. Der Leiter der Raketenausbesserungswerft, Osterriem, betrachtete durch ein Fernrohr die Außenhaut der Rakete — sie schien unverletzt. Der Triebwerksingenieur Bernaud maß Länge, Spektrum und Gamma-Intensität des Staustrahls — keine Abweichungen vom Normalen. Aber die Rakete schwieg.
    „Im Mittelalter gab es Ortschaften, die von der Pest entvölkert waren“, sagte der Arzt, und er sprach unwillkürlich leise, „aber man konnte sie daran erkennen, daß kein Rauch aus den Schornsteinen stieg!“
    „Vielleicht behaupten Sie noch“, brummte Bernaud ziemlich verächtlich, „daß die da drüben eine Tsetse-Fliege an Bord haben, die sie mit der Schlafkrankheit infiziert hat!“
    „Ruhe im Schiff!“ befahl der Pilot. Als Testpilot der Ausbesserungswerft hatte Leif Johanson von allen Angehörigen des Havariekommandos die meisten Flugstunden und also auch die meisten Raumerfahrungen, aber trotzdem und trotz seines ruhigen und entschlossenen Wesens mußte auch er an sich halten, daß er nicht mit irgendwelchen dummen Redereien seiner Besorgnis um die beiden Genossen der FR 17 Luft machte. Er spürte an sich selbst, wie es alle drängte, die innere Spannung in sinnvollem Handeln zu entladen. Er wußte auch, daß er es jetzt am leichtesten hatte, denn er tat ja etwas, er lenkte die Havarierakete, während die anderen nur warten konnten. Deshalb rief er sofort nach Beendigung der Verständigungsversuche den Kommandanten an. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht des Gerufenen. Der Pilot schilderte ihm die bisherigen, negativ verlaufenen Untersuchungen.
    Der Kommandant wiegte den Kopf. „Tja — da werdet ihr wohl anklopfen müssen, mein Lieber!“
    „Dachte auch so!“ bestätigte Johanson. „Wird ein hartes Stück Arbeit werden!“
    „Was hilft's!“ antwortete der Kommandant, ebenso wie der Pilot bewußt große Worte vermeidend. „Versucht es mit dem Netz. Bereitet euch auch schon auf den Einstieg vor. Aber erst nur anklopfen. Und gebt mir die FR siebzehn ins Bild!“
    Die Männer bereiteten sich vor. Was nun folgen sollte, war eins der schwierigsten Manöver in der damaligen Raumfahrt, wenn nicht das schwierigste und gefährlichste überhaupt. Jeder Antrieb — also auch der Bremsantrieb — übt ja auf die Rakete und ihre Besatzung die gleiche Wirkung aus wie die Schwerkraft auf die Bewohner der Erde. Wer also einfach wie beim antriebslosen Flug aus der Rakete aussteigen wollte, würde nicht neben der Rakete schweben, sondern an ihr vorbei ins Bodenlose fallen und wahrscheinlich vom Gasstrahl der Triebwerke erfaßt werden und verbrennen.
    Er müßte sich also an irgend etwas festhalten können. Vergleichsweise könnte man sich die hier vorliegende Situation so vorstellen: Die beiden Raketen sind Türme, die auf benachbarten Berggipfeln stehen und zwischen denen ein endloser Abgrund gähnt. Man soll nun vom ersten Turm über den dazwischenliegenden Abgrund hinweg zum zweiten Turm gelangen und dort irgendwelche Arbeiten ausführen. Luftbeförderungsmittel scheiden aus, da ja keine Luft vorhanden ist. Wahrhaftig eine alpinistische Aufgabe!
    Dabei hinkt dieser Vergleich noch auf einem Fuß: Berggipfel stehen unverrückbar fest — aber bei diesen beiden „Türmen“ genügt eine
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