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Das Dampfhaus

Das Dampfhaus

Titel: Das Dampfhaus
Autoren: Jules Verne
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Alles in Ordnung sei, und lehnte sich, zehn Schritte zur Linken des Geschützes, nachlässig an die Brustwehr.
    Zehn Minuten lang verharrte der Hindu in derselben Stellung, wobei er manchmal den Platz überblickte und manchmal sich hinausbog und in den Abgrund starrte, der vor der Festung gähnte.
    Offenbar bemühte sich derselbe nach Kräften, nicht in Schlaf zu sinken. Endlich erlag er aber doch der Erschöpfung, glitt auf die Erde nieder und streckte sich neben der Brustwehr aus, wo er im tieferen Schatten gar nicht zu sehen war.
    Uebrigens lagerte rings schon tiefes Dunkel. Am Himmel standen unbeweglich dicke Wolken. Die Luft war so ruhig, als ob deren Moleküle miteinander verlöthet wären. Vom Thale drang kein Geräusch bis in diese Höhe. Ringsum herrschte vollkommene Stille.
    Wenn das eine Nacht voll Todesangst für den Oberst Munro sein sollte, so muß man ihm zur Ehre sagen, daß er kaum einen Augenblick an die letzte Secunde seines Lebens dachte, wo die gewaltsam zerrissenen Gewebe des Leibes und seine verstümmelten Glieder weithin zerstreut werden sollten. Es handelte sich ja nur um einen Blitzschlag, und diese Aussicht war nicht dazu angethan, eine Natur wie die seinige, welche vor nichts zurückbebte, allzusehr zu erregen. Nur wenige Stunden hatte er noch zu leben – der Rest eines Erdendaseins, das sich einst für ihn so glücklich gestaltet hatte. Sein ganzes Leben spiegelte sich in scharfen Bildern noch einmal in ihm wieder, die ganze Vergangenheit trat lebhaft vor seine Augen.
     

    »Morgen mit Sonnenaufgang… Bum!« sagte der Hindu. (S. 395)
     
    Das Bild der Lady Munro stand wieder vor ihm. Er sah, er hörte sie, die Unglückliche, die er nicht mit den Augen, aber mit den Herzen beweinte, wie in den ersten Tagen. Er fand noch einmal das junge Mädchen in jener schrecklichen Stadt Khanpur, in der Wohnung, wo er sie zuerst gesehen, bewundert, geliebt hatte. Die wenigen glückseligen Jahre, denen die entsetzlichste aller Katastrophen ein jähes Ende machte, lebten in seinem Geiste wieder auf. Schon war die halbe Nacht verstrichen, ohne daß Sir Edward Munro es gewahr wurde. Er hatte ganz im Andenken an sein Weib da unten gelebt, ohne daß ihn etwas davon abzuwenden vermochte. In drei Stunden drängten sich drei Jahre der glücklichen Vereinigung mit ihr zusammen. Ja, die Phantasie hatte ihn unwiderstehlich von diesem Plateau von Ripore hinweggetragen, ihn von der Mündung der Kanone befreit, welche sozusagen der erste Sonnenstrahl abfeuern sollte! Da erschien ihm aber der entsetzliche Ausgang der Belagerung von Khanpur, die Einsperrung der Lady Munro und ihrer Mutter in dem Bibi-Ghar, die Niedermetzelung ihrer unglücklichen Gefährten und endlich der Brunnenschacht, das Grab jener zweihundert Opfer, an dem er vier Monate vorher, zum letzten Male geweint hatte.
    Und hier, wenige Schritte von ihm, hauste der scheußliche Nana Sahib, der Mörder Lady Munro’s und so vieler anderer bejammernswerther Opfer! In seine Hand mußte er fallen, der danach gelechzt hatte, Gerechtigkeit zu üben an dem Scheusal, das dem Gesetze unerreichbar geblieben war. In einer Aufwallung blinden Zornes machte Oberst Munro eine Anstrengung, seine Fesseln zu brechen. Vergebens – die Stricke widerstanden und schnitten ihm nur in’s Fleisch ein. Er stieß einen kurzen Schrei aus, aber nicht vor Schmerz, sondern vor Wuth.
    Auf diesen Schrei erhob der im Schatten der Brustwehr liegende Hindu den Kopf und sammelte wieder seine Gedanken. Er erinnerte sich wohl, daß er den Gefangenen bewachen sollte. So erhob er sich, schritt vorsichtig auf Oberst Munro zu, legte diesem, wie um sich zu vergewissern, daß er noch da sei, die Hand auf die Schulter und sagte mit noch schlaftrunkener Stimme:
    »Morgen, mit Sonnenaufgang… Bum!«
    Dann kehrte er nach der Brustwehr zurück, um einen bequemen Platz zu suchen, legte sich wieder auf die Erde nieder und sank bald in tiefen Schlummer.
    Nach jener vergeblichen Anstrengung wurde der Oberst auffallend ruhig. Seine Gedanken nahmen wieder eine andere Richtung an und er vergaß ganz das Los, das seiner harrte. In Folge einer ganz natürlichen Ideenverbindung erinnerte er sich jetzt seiner Freunde, seiner Gefährten. Er fragte sich, ob sie vielleicht einer anderen Dacoits-Bande, wie solche zahlreich die Vindhyas durchstreifen, in die Hände gefallen seien, ob sie wohl dasselbe Geschick wie ihn ereilen sollte – und dieser Gedanke schnürte ihm das Herz zusammen.
    Und doch sagte er sich
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