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Das Dampfhaus

Das Dampfhaus

Titel: Das Dampfhaus
Autoren: Jules Verne
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lag zur Linken der Kanone, die Erscheinung nahte sich dagegen von der rechten Seite, blieb zuweilen stehen und ging dann mit kleinen Schritten weiter.
    Endlich kam die Erscheinung so nahe, daß Oberst Munro sie deutlicher erkennen konnte.
    Es war ein Wesen von mittlerer Größe, deren ganzen Körper ein einziges Stück Stoff vollständig verhüllte. Nur eine Hand sah aus demselben hervor, welche einen brennenden harzigen Zweig hielt.
    »Ein Irrsinniger, der das Lager der Dacoits wahrscheinlich öfter zu besuchen pflegt, sagte sich Oberst Munro, und auf den Niemand besonders Achtung giebt! O, warum hat er statt des Feuers nicht einen Dolch in der Hand!… Vielleicht könnte ich?…«
    Ein Irrsinniger war es zwar nicht, Oberst Munro hatte aber doch beinahe das Richtige getroffen.
    Es war die Wahnsinnige aus dem Nerbudda-Thale, das Geschöpf ohne Bewußtsein, welches seit vier Monaten durch die Vindhyas irrte und von den abergläubischen Gounds stets ehrfurchtsvoll betrachtet und gastfreundlich aufgenommen wurde. Weder Nana Sahib, noch einer seiner Leute wußte, welchen Antheil die »wandelnde Flamme« an dem Ueberfall beim Pal von Tandit gehabt hatte. Sie begegneten ihr so häufig in den Berg-Districten von Bundelkund, daß ihre Anwesenheit Niemand auffiel. Schon wiederholt hatte sie bei ihrer unausgesetzten Wanderung die Schritte nach der Veste von Ripore gelenkt, und Keiner daran gedacht, sie von hier zu vertreiben. Der Zufall leitete sie stets bei den nächtlichen Wanderungen und der Zufall führte sie auch in dieser Nacht hierher.
    Oberst Munro wußte von der Irrsinnigen bisher nichts. Von der, »wandelnden Flamme« hatte er niemals reden gehört, und doch machte das unbekannte Wesen, als es näher und näher kam, ihn vielleicht berühren, vielleicht ansprechen konnte, sein Herz heftiger schlagen.
    Allmählich näherte sich die Wahnsinnige der Kanone. Ihr Harzzweig verbreitete nur einen schwachen Schimmer und sie schien den Gefangenen gar nicht zu sehen, obwohl sie jetzt gerade vor ihm stand und ihre Augen hinter der Hülle, welche Oeffnungen hatte wie die Kutte eines bußfertigen Sünders, fast sichtbar waren.
    Sir Edward Munro sprach kein Wort. Weder durch eine Bewegung des Kopfes, noch durch einen Laut versuchte er die Aufmerksamkeit der fremdartigen Erscheinung auf sich zu lenken.
    Sie kehrte auch bald zurück und umschritt die gewaltige Kanone, auf deren Oberfläche ihr Harzbrand kleine Lichterchen hintanzen ließ.
    Begriff die Wahnsinnige wohl, wozu diese einem Ungeheuer ähnliche Kanone dienen sollte, warum jener Mann an deren Mündung gefesselt war, welche mit dem ersten Sonnenstrahl Blitz und Donner speien sollte?
    Gewiß nicht. Die »wandelnde Flamme« war auch jetzt wie gewöhnlich ohne Bewußtsein. Sie irrte diese Nacht, wie schon früher öfter, auf der Höhe von Ripore umher, die sie dann verlassen würde; sie schlich dann den gewundenen Pfad hinab, betrat wieder das Thal und begab sich dahin, wohin die augenblickliche, unüberlegte Laune sie eben führte.
    Oberst Munro, der den Kopf frei bewegen konnte, folgte allen ihren Bewegungen. Er sah sie hinter dem Geschütz vorbeigehen. Von da wandte sie sich nach der steinernen Brustwehr, um ihr voraussichtlich bis zu der Stelle zu folgen, wo diese sich an das Eingangsthor anschloß.
    So geschah es auch anfänglich; plötzlich aber hielt sie vor dem schlafenden Hindu inne und kehrte wieder um. Welches unsichtbare Band hinderte sie, weiter zu gehen? Wie dem auch sei, jedenfalls führte sie ein unerklärlicher Trieb zu dem Oberst Munro zurück, vor dem sie regungslos stehen blieb.
    Diesmal schlug Sir Edward Munro’s Herz so heftig, daß er unwillkürlich den Versuch machte, eine Hand zu bewegen, um sie darauf zu pressen.
    Die »wandelnde Flamme« trat ganz nahe an ihn heran. Sie hatte den brennenden Zweig bis in Gesichtshöhe des Gefangenen erhoben, wie um ihn besser sehen zu können. Durch die Oeffnungen der Kutte leuchteten ihre Augen in unheimlicher Gluth.
    Oberst Munro fühlte sich davon wunderbar ergriffen und verzehrte die Erscheinung fast mit dem Blicke.
    Da schob die linke Hand der Wahnsinnigen langsam die Falten ihrer Hülle auseinander, bald zeigte sich ihr Gesicht, und gerade da bewegte sie mit der rechten Hand den Zweig heftiger, der in Folge dessen einen helleren Schein verbreitete. Ein Schrei – ein halb unterdrückter Schrei – entrang sich der Brust des Gefangenen.
    »Laurence! Laurence!«
    Jetzt fürchtete er selbst, den Verstand verloren
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