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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
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in schuldbewusster Erinnerung.
    Meine Eltern erklärten mir dann, dass » Türke « eine abfällige, rassistische Bezeichnung für einen bosnischen Muslim sei. (Jahre später erinnerte ich mich an meine unbeabsichtigte Beleidigung, als ich Ratko Mladić im Fernsehen sah, der nach dem Einmarsch in Srebrenica, wo unter seinem Kommando achttausend bosnisch-muslimische Männer ermordet werden sollten, in die Kameras rief: » Dies ist der jüngste Sieg in einem fünfhundertjährigen Krieg gegen die Türken. « ) Nach Almirs Geburtstagsfeier lernte ich, dass ein Wort wie » Türke « verletzen konnte. Offenbar hatten das alle schon gewusst. Ich hatte Almir durch diese Bezeichnung zu einem anderen gemacht, ihn aus unserer Gruppe, wie immer sie definiert war, quasi ausgeschlossen. Dabei hatte sich mein Witz auf die Belanglosigkeit von Unterschieden bezogen – da wir derselben raja angehörten, in vielen Kriegen Seite an Seite gekämpft hatten, sorgte der Pullover für einen nur momentanen und völlig belanglosen Unterschied. Ich konnte diesen Witz eben deswegen machen, weil es keinen wesentlichen Unterschied zwischen uns gab. Sobald man aber auf einen Unterschied hinweist, betritt man, wie alt man auch sein mag, ein bereits existierendes System von willkürlichen Unterscheidungen und Identitäten, das mit den eigenen Absichten nichts zu tun und auf das man keinen Einfluss hat. Wer jemanden zu einem anderen macht, macht sich selbst zu einem anderen. Indem ich idiotischerweise auf Almirs nicht existierenden Unterschied hinwies, schloss ich mich selbst aus meiner raja aus.
    Erwachsenwerden heißt leider auch, dass man lernt, sich Abstraktionen verpflichtet zu fühlen – dem Staat, der Nation, einer Idee. Man gelobt Treue, man liebt den Führer. Man lernt, Unterschiede zu erkennen und wichtig zu finden, man lernt, wer man wirklich ist, man lernt, dass Generationen von Toten mit ihren unbegreiflichen Errungenschaften einen zu dem gemacht haben, der man ist. Man muss seine Loyalität gegenüber einer abstrakt definierten Gemeinschaft bekennen, die weit über das Individuum hinausreicht. Von daher ist die raja kaum als soziale Einheit zu verstehen, die Loyalität ihr gegenüber – gegenüber dem » Wir « , das so konkret ist, dass ich heute noch die Namen ihrer Mitglieder aufsagen könnte – reicht nicht.
    Ich kann nicht behaupten, dass meine Beleidigung direkt dazu führte, dass unsere Kriege und die goldenen Tage unserer Souveränität im Park bald darauf endeten. Irgendwann wurden die Konflikte mit anderen rajas durch Fußballspielen gelöst, worin wir nicht besonders gut waren. Wir konnten Zeko und seine Mannschaft noch immer nicht schlagen, weil sie bestimmten, was ein Foul oder ein Tor war. Wir trauten uns nicht, sie auch nur zu berühren, und selbst wenn wir ein Tor schossen, wurde es nie gegeben.
    Almir war kein guter Fußballspieler. Er beschäftigte sich immer mehr mit » Bijelo Dugme « , einer Band, die ich nicht leiden konnte. Bald beschäftigte er sich auch mit Mädchen, führte ein ganz anderes Leben als wir, wurde lange vor uns ein anderer. Ich weiß nicht, wo er heute lebt oder was aus ihm geworden ist. Unser » Wir « existiert nicht mehr.
    3. Wir und sie
    Im Dezember 1993 trafen meine Schwester und meine Eltern als Flüchtlinge in Hamilton (Ontario) ein. In den ersten Monaten besuchten meine Eltern einen Englisch-Sprachkurs, während Kristina bei Taco Bell arbeitete, einem Schnellrestaurant mit mexikanischer Küche (sie sprach nur von » Taco Hell « ). Es war eine schwierige Zeit für sie, wegen der Sprache, die meinen Eltern fremd war, wegen des allgemeinen Schocks des Exils und des kalten Klimas, das einem spontanen menschlichen Miteinander nicht sehr förderlich ist. Für meine Eltern war die Jobsuche eine furchteinflößende Unternehmung ungeahnten Ausmaßes, aber Hamilton ist eine Stahlarbeiterstadt voller arbeitswilliger Einwanderer, viele Kanadier der ersten Generation sind daher freundlich und hilfsbereit gegenüber ihren neuen Mitbürgern. Bald fanden meine Eltern auch tatsächlich Arbeit – Vater in einem Stahlwerk, Mutter als Hausmeisterin in einem großen Gebäude, in dem zahlreiche Einwanderer wohnten.
    Aber schon nach kurzer Zeit begannen meine Eltern, die Unterschiede zwischen uns, den Bosniern oder Exjugoslawen, und ihnen, den Kanadiern, systematisch zu registrieren. Diese theoretisch endlose Liste enthielt Dinge wie saure Sahne (unsere saure Sahne, mileram, war sahniger und schmackhafter),
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