Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben
Autoren: Alexander Heamon
Vom Netzwerk:
Substanzlosigkeit, ihre unverdiente Anwesenheit. Und dann begann ich, sie zu ersticken, ihr die Kehle zuzudrücken, wie im Fernsehen. Sie war weich und warm und lebendig, ihre Existenz lag in meiner Hand. Ich spürte ihren winzigen Hals unter meinen Fingern, ich tat ihr weh, sie wand sich. Plötzlich wurde mir klar, dass ich das nicht tun durfte, ich durfte sie nicht umbringen, weil sie mein Schwesterchen war, weil ich sie liebte. Aber der Körper ist dem Denken immer ein Stückchen voraus, so dass ich noch eine Weile drückte, bis sie anfing zu würgen und Muttermilchklumpen erbrach. Ich erschrak bei dem Gedanken, dass ich sie verlieren könnte. Sie hieß Kristina, ich war ihr großer Bruder. Sie sollte leben, damit ich sie umso mehr lieben konnte. Ich wusste zwar, wie ich ihr Leben beenden, nicht aber, wie ich ihren Tod verhindern konnte.
    Meine Mutter hörte ihr verzweifeltes Geschrei, warf den Hörer hin und kam herbeigelaufen. Sie nahm meine Schwester in den Arm, redete ihr beruhigend zu, wischte das Erbrochene weg, ließ sie tief einatmen und verlangte dann eine Erklärung von mir. Meine gerade entdeckte Schwesterliebe und das damit verbundene Schuldgefühl hatten meine instinktiven Selbstverteidigungsimpulse aber keineswegs außer Kraft gesetzt. Kühn erklärte ich, dass sie angefangen habe zu schreien, und dass ich ihr bloß die Hand auf den Mund gelegt hätte, damit unsere Mutter beim Telefonieren nicht gestört würde. In meiner ganzen Kindheit wusste ich immer mehr, als meine Eltern dachten – ich war immer etwas älter als der, den sie vor sich sahen. In diesem Fall nahm ich schamlos gute Absichten und kindliche Unwissenheit für mich in Anspruch, woraufhin ich gewarnt und mir vergeben wurde. Eine Weile stand ich zweifellos unter Beobachtung, aber ich habe seitdem nicht mehr versucht, Kristina umzubringen, sondern sie unentwegt geliebt.
    Die Erinnerung an diesen versuchten Schwestermord ist das früheste Bild, in dem ich mich von außen sehe. Ich sehe mich und meine Schwester. Nie wieder würde ich allein auf der Welt sein, nie wieder würde ich die Welt ausschließlich für mich haben. Nie wieder würde mein Ich ein souveränes Territorium sein, in dem andere nicht existierten. Nie wieder würde ich die Schokolade für mich ganz allein haben.
    2. Wer sind wir?
    Für ein Kind, das in den frühen Siebzigern in Sarajevo aufwuchs, war die raja die wichtigste soziale Ordnung. Wer überhaupt Freunde hatte, hatte eine raja, aber normalerweise definierte sich die raja über das Viertel oder den Häuserblock, in dem man wohnte. Wir verbrachten den größten Teil unserer freien Zeit auf der Straße bei irgendwelchen Spielen. Jede raja hatte eine Altershierarchie. Die velika raja waren die Älteren, zu deren Pflichten es gehörte, die mala raja, die Jüngeren, vor Angriffen oder Überfällen einer anderen raja zu schützen. Die Älteren hatten Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam der Jüngeren, die jederzeit losgeschickt werden konnten, Zigaretten oder Schmuddelhefte, Bier und Kondome zu kaufen, oder gnadenlose Schikanen über sich ergehen lassen mussten – mein Kopf musste oft eine Kanonade der gefürchteten mazzolas aushalten. Viele rajas trugen den Namen ihres Anführers, meist des Stärksten, Härtesten. Wir fürchteten uns beispielsweise vor der raja von Ć iza, der ein bekannter jalijaš war, ein Schläger. Ć iza war schon so alt, dass er in diverse kleinkriminelle Aktionen verwickelt war, weshalb wir ihn nie zu Gesicht bekamen. Ihn umgab etwas Mythologisches, während sein jüngerer Bruder Zeko für das Alltagsgeschäft zuständig war. Vor ihm hatten wir ganz besonders Angst.
    Meine raja war eine unbedeutende, schwache Truppe, da wir keinen Anführer hatten – unsere älteren Jungs nahmen die Schule nämlich sehr ernst. Wir definierten uns über den Spielplatz in unserer sozialistischen Plattenbausiedlung, in der wir wohnten. In unserem Sprachgebrauch hieß er » der Park « . In der Geopolitik unseres Viertels, das seinerzeit den Namen Stara stanica (alter Bahnhof) trug, waren wir als Parkaši bekannt. Der Park war nicht nur mit den spielplatzüblichen Dingen ausgestattet, Rutsche, drei Schaukeln, Sandkasten, Karussell, sondern auch mit Bänken, die uns beim Fußballspielen als Tore dienten. Und vor allem gab es Büsche, in denen wir unsere loga hatten, unsere Basis, wohin wir uns vor Ćiza marodierender raja in Sicherheit bringen konnten, wo wir Sachen horteten, die wir zu Hause gestohlen oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher